Ausblick Extrablatt: Die Urteile von Tokyo (4/5)
Der Dissens auf der Richterbank ist nicht mehr zu übersehen.
Willkommen zurück. Nachdem wir uns in den ersten drei Ausgaben dieser Reihe mit den allgemeinen Rahmenbedingungen, den angeklagten Kriegsverbrechern sowie mit den ihnen vorgeworfenen Kriegsverbrechen und deren Strafbarkeit im Jahre 1946 beschäftigt haben, folgt im vorletzten Teil nun ein Blick auf die einzelnen Urteile und abweichenden Meinungen der Richterbank.
Eigentlich hätte es nach dem zweieinhalbjährigen Prozess nur ein einziges Urteil geben sollen. Das Tribunal von Tokyo, ganz im Sinne des Vorgängerprozesses in Nürnberg, sollte ein Urteil fällen, das die Zustimmung aller elf Richter beinhalten würde. Darauf einigte man sich direkt vor Beginn der Verhandlungen. Da zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht alle Richter vor Ort waren, fühlte sich der später eintreffende Richter Radhabinod Pal aus Indien nicht an diese Abmachung gebunden. Außerdem bleibt zu berücksichtigen, dass in Tokyo fast dreimal so viele Richter aus unterschiedlichen Ländern vertreten waren wie in Nürnberg. So ergab sich zum Zeitpunkt der Verkündung des Mehrheitsurteils eine juristische und politische Kakophonie, die an dieser Stelle einmal auseinanderklamüsert werden soll.
Grob gesagt, lassen sich die Richter durch ihre Meinungen und Urteile in drei größere Gruppen einteilen: die Mehrheitsmeinung, eine an die Mehrheit angelehnte Minderheit sowie eine eigenständige, abweichende Minderheit.
1. Die Mehrheit und die bewiesene Schuld
Für die meisten Richter in Tokyo war die Schuld der Angeklagten, die als ein repräsentativer Ausschnitt der japanischen Führung während des illegalen Angriffskriegs im Gerichtssaal Platz nehmen sollte, belegbar. Ihnen bereiteten die Straftatbestände der aggressiven Kriegsführung, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Verschwörung wenig Probleme.
Interessant ist dabei die Auswahl der Richter, die in dieser Ecke zu finden sind: so finden sich hier neben allen Commonwealth-Staaten (also Australien, Neuseeland, Kanada und Großbritannien) auch die USA, die Republik China, die Sowjetunion und die Philippinen.
Diese Mehrheit kam im November 1948 zu dem Ergebnis, dass die von Japan zwischen 1928 und 1945 begangenen Verbrechen in allen betroffenen Regionen Asiens und des Pazifiks ein so einheitliches Bild darstellten, dass nur eine Schlussfolgerung zutreffen konnte: die japanische Regierung, einzelne Regierungsmitglieder und auch die Führung der bewaffneten Streitkräfte mussten im Rahmen einer “Verschwörung” die Durchführung dieser Taten entweder „heimlich befohlen“ oder willentlich erlaubt haben.
Diese Wortwahl klingt schwammig und zeigt zwei Probleme auf. Zum einen sollte sie die Auswahl der Angeklagen in diesem Prozess rechtfertigen. Dabei handelte es sich um eine Gruppe äußerst unterschiedlicher Männer, unter ihnen Offiziere, hohe Regierungsbeamte und auch ein Vertreter des Kaiserhofs. Sie alle hatten sich, so das Urteil, durch ihr Tolerieren oder ihre Erlaubnis für die begangenen Verbrechen und Entwicklungen strafbar gemacht. Zum anderen gesteht das Urteil in seinem Wording aber auch zu, dass die Anklage während des Prozesses in vielen Fällen nur eingeschränkt substantielle Beweise vorzuweisen hatte. Viele der Befehle seien schließlich „heimlich“ gegeben worden. Totani merkt in ihren Ausführungen zu dem Mehrheitsurteil an, dass hier die Aktenlage oft dünn war. Ähnlich wie in den letzten Tagen des Nazi-Unrechtsregimes in Deutschland oder während der „Aktion Reißwolf“ in der untergehenden DDR, versuchte auch die japanische Staatsführung am Ende des Pazifikkriegs, Akten und Dokumente zu vernichten, um nach der Niederlage nicht für schriftlich belegbare Verbrechen belangt werden zu können. So konnte beim Prozess in Tokyo die Erteilung völkerrechtswidriger Befehle nicht immer durch Akten belegt werden.
In dem Urteil werden zahlreiche Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung sowie gegen Kriegsgefangene in weiten Teilen des japanisch besetzten Asiens als gegeben angesehen. Dazu gehören außergerichtliche Hinrichtungen, Misshandlungen und Folter von Kriegsgefangenen, Zwangsarbeit sowie belegte Berichte von forcierten Verstümmelungen, Kannibalismus und Vivisektionen, also nichtmedizinischen Operationen an lebenden Personen ohne Verwendung von Narkose.
Worauf sich die Mehrheit der Richter in ihrem Urteil jedoch nicht beziehen, sind zahlreiche weitere medizinische Versuche oder auch großflächige Giftgasexperimente. Auch die zahlreichen Fälle der vom japanischen Militär in weiten Teilen Asiens organisierten Zwangsprostitution finden nur eine randständige Erwähnung und dürften für die Verhängung der Urteile kaum ins Gewicht gefallen sein. Dafür waren die Beweise, die von der chinesischen, französischen und niederländischen Anklage für konkrete Fälle von militärischer Zwangsprostitution vorgebracht wurden, zu sporadisch.
Auf Grundlage dieser Feststellungen wurden von den 28 Angeklagten in Tokyo insgesamt sieben zum Tode verurteilt. Weitere sechzehn Angeklagte wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. Zwei Angeklagte waren noch während des Prozesses auf natürliche Weise gestorben, ein weiterer, der rechtsnationale Propagandist Okawa Shumei, wurde als „unzurchnungsfähig“ eingestuft und entzog sich aufgrund fehlender geistiger Zurechnungsfähigkeit einem Urteil. Nur zwei Angeklagte, die ehemaligen Außenminister Shigemitsu Mamoru und Togo Shigenori, erhielten kürzere Haftstrafen. Shigemitsu wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, Togo zu 20 Jahren. Ein Großteil der Haftstrafen wurde von japanischen Behörden in den nachfolgenden Jahren vorzeitig herabgesetzt. Shigemitsu konnte so in den 1950er Jahren nach seiner Freilassung erneut Außenminister Japans werden, was auch in Japan zumindest in juristischen Kreisen für Kopfschütteln sorgte. Kaino Michitaka, selbst einer der Strafverteidiger im Kriegsverbrecherprozess, fragte sich, ob die erneute Berufung Shigemitsus auf den Posten des obersten Diplomaten Japans nicht die Gültigkeit des gesamten Prozesses posthum untergrabe.
2. Die Minderheit der Mehrheit: was ergänzt werden sollte
Typisch für das angloamerikanische Common Law System sind die abweichenden Meinungen von Richtern, die sich in der Minderheit bei der Urteilsverkündung sehen. Auch wenn ihre Ansichten keinen Einfluss auf das konkrete Urteil haben mögen, ist der Dissens nicht nur eine Möglichkeit, Verfehlungen der Mehrheitsmeinung aufzuzeigen, sondern kann auch für künftige Generationen von Juristinnen hilfreich sein, um neue rechtliche Grundsätze zu formulieren und das Recht fortzubilden. Die Einwände oder begleitenden Ergänzungen beim Kriegsverbrecherprozess in Tokyo boten damals wie heute Einblicke in den politischen Diskurs und in die Entwicklungsschritte des Völkerstrafrechts gegen Ende des Zweiten Weltkriegs.
Der Blick auf die Minderheitenmeinungen in Tokyo sollte zuerst auf diejenigen Richter fallen, die im Großen und Ganzen mit der Mehrheit übereinstimmten, jedoch wichtige Ergänzungen für notwendig erachteten.
Dies galt vor allem für den Richter der Philippinen, Delfin Jaranilla. Dieser war während der japanischen Besatzung mehrfach in Lebensgefahr geraten und hatte mit eigenen Augen die Plünderei, Brandstiftung und die Misshandlung der Zivilbevölkerung durch die japanischen Streitkräfte erlebt. Einige Familienmitglieder Jaranillas starben während der japanischen Besatzung. Er selbst wurde Opfer auch eines Kriegsverbrechens: er wurde gezwungen, am Todesmarsch von Bataan teilzunehmen. Diese persönlichen Eindrücke bewegten ihn höchstwahrscheinlich dazu, eine Meinung zu schreiben, die das Mehrheitsurteil ergänzen sollte: er empfahl, deutlich härtere Strafen und Urteile zu verhängen. Hier kann zurecht hinterfragt werden, ob eine persönlich betroffene Person über die mutmaßlichen Täter objektiv und mit der nötigen Distanz hatte urteilen können. Dass Jaranilla eventuell befangen sein könnte, wurde bereits bei Prozessbeginn von einigen Seiten angemerkt.
Eine separate Meinung wiederum äußerte auch der Vorsitzende Richter, der Australier William Webb. Trotz umfangreicher Bemühungen von australischer Seite, verhinderte es vor allem die Intervention der USA, dass Tenno Hirohito von dem Tribunal angeklagt oder zumindest als Zeuge berufen werden konnte. Tatsächlich wurde während der Verhandlungen sogar peinlichst vermieden, Hirohito überhaupt zu erwähnen. Was freilich nicht immer gelang: in den Transkripten ist an einer Stelle zu lesen, wie Webb den Chefankläger Joseph Keenan bei seinen ausschweifenden Äußerungen über die japanische Kriegsführung mit der sarkastischen Bemerkung zurückrudern musste, dass so glatt der Eindruck entstehen könne, der Tenno selbst werde hier angeklagt.
Dennoch bleibt festzuhalten: Sowohl Webb als auch Jaranilla stimmten mit der Mehrheit, die so auf die Unterstützung von acht der elf Richter setzen konnte.
3. Die Minderheit und ihre Einsprüche
Weder ergänzend noch separat war dagegen das abweichende Urteil des französischen Richters, Henri Bernard. Dieser war ein eingefleischter Vertreter des romanischen Rechtskreises und konnte nicht nur aufgrund von Sprachbarrieren (widersprüchlichen Berichten zufolge war Bernard des Englischen wohl nur eingeschränkt mächtig) wenig mit dem nach amerikanischem Vorbild modellierten Prozess und seinen Straftatbeständen anfangen. So richtete sich seine Kritik vor allem gegen das rechtliche Fundament des Tribunals. Bernard zufolge mangelte es an vernünftiger Beweisführung, die Einführung „neuer“ Straftatbestände wie Verschwörung und Verbrechen der Aggression sah er ebenfalls kritisch und verortete die Legitimität des Tribunals lieber in den Bereich eines universell geltenden Naturrechts. Es bleibt festzuhalten, dass Bernards Beitrag insgesamt überschaubar blieb.
Der niederländische Richter, Bert Röling, könnte dagegen als direkte Verbindung zwischen der Mehrheitsmeinung und dem Lager der ablehnenden Minorität angesehen werden. Auch wenn er mit dem letztendlichen Urteil des Tokyoter Prozesses nicht übereinstimmen konnte, war Röling doch daran beteiligt, einige Urteile umzuwandeln und teilweise niedrigere Haftstrafen für einzelne Angeklagte zu erwirken. Aus seiner Sicht war die individuelle Verantwortlichkeit in einigen Fällen klarer als in anderen. Für Röling lag ein Großteil der Kriegsschuld vor allem bei den Militärs. Außenminister Shigemitsu, der wie bereits erwähnt mit Abstand die geringste Haftstrafe erhalten sollte, wäre nach Meinung des Niederländers sogar freigesprochen worden. Jedoch bleibt auch festzuhalten, dass Röling die Todesstrafe für einige Offiziere vorgesehen hätte, die durch das Mehrheitsurteil lediglich eine lebenslänge Freiheitsstrafe erhielten. Für ihn sollten nur solche Angeklagten die Höchststrafe erhalten, die für konventionelle Kriegsverbrechen verurteilt worden waren. Röling hatte offenbar seine Probleme mit der Anwendung von ex post facto Straftatbeständen wie Verschwörung.
Am meisten Aufmerksamkeit dürfte in den nachfolgenden Jahrzehnten jedoch das abweichende Urteil des indischen Richters Radhabinod Pal gehabt haben. Ihm ist es, wie oben erklärt, zu verdanken, dass überhaupt abweichende Meinungen geschrieben und später veröffentlicht werden konnten. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass Richter Pal die Legitimität des gesamten Prozesses von Beginn an ablehnte. Für ihn war die gesamte Angelegenheit ein Schauprozess, den die europäischen Kolonialmächte und die USA nutzen wollten, um ihre westlichen Werte einem asiatischen Land wie Japan aufzudrücken. Pals abweichendes Urteil umfasst über 1200 Seiten und ist im Grunde eine Mischung aus Geschichtsrevisionismus, antikolonialem Manifest und antikommunistischer Ideologie. Pal war unter anderem der Meinung, Japan habe einen defensiven Verteidigungskrieg gegen den Kommunismus in China geführt, der auch durch Ereignisse wie das Massaker von Nanking nicht illegitim geführt worden sei. Das Völkerrecht der damaligen Zeit sei nicht in der Lage, Individuen anzuklagen, dafür fehlten einfach Präzedenzfälle und nötige Rechtsquellen. Dadurch sei auch die Militärführung kaum für Taten ihrer Untergebenen zur Verantwortung zu ziehen. Und die USA seien schließlich auch für Kriegsverbrechen wie den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki verantwortlich. Aus Pals Sicht seien somit alle Angeklagten ohne Ausnahme freizusprechen.
Auch wenn die Meinung des indischen Richters zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung weder in Japan noch im Rest der Welt große Resonanz fand, begannen nachfolgende Generationen von Historikerinnen und Juristen sich sehr für ihn zu interessieren. Und für japanische Rechtsextreme, die eine Rückkehr zur alten Größe ihrer Nation anstrebten, schuf RadhabinodPal eine scheinbar juristische Grundlage für ihren Geschichtsleugnung.
Wie das abweichende Urteil von Pal die nachfolgende Bewertung des Prozesses von Tokyo bis heute prägt, werden wir in der kommenden Woche noch einmal im letzten Teil der Sommer-Reihe genauer untersuchen.
Verwendete Quellen:
Totani Yuma, The Tokyo War Crimes Trial.
Kerstin von Lingen, Transcultural Justice at the Tokyo Tribunal. The Allied Struggle for Justice, 1946-48.
Nakazato Nariaki, Neonationalist Mythology in Postwar Japan. Pal’s Dissenting Judgement at the Toyko War Crimes Tribunal.
Spiegel (09.05.2007), Computer puzzelt Stasi-Schnipsel zusammen
Josef Henke, Das Schicksal deutscher zeitgeschichtlicher Quellen in Kriegs- und Nachkriegszeit: Beschlagnahmung - Rückführung - Verbleib. (Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte).
Antonio Cassese (Hrsg.), B.V.A. Röling, The Tokyo Trial and Beyond: Reflections of a Peacemonger.
Jason Dawsey, Justice Radhabinod Pal and the Tokyo Tribunal. (National WW2 Museum New Orleans)
Thomas W. Shelton, Minority Opinions in the Making of the Law (Virginia Law Review)
Encyclopædia Britannica, Bataan Death March.
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