Ausblick Extrablatt: Der Prozess von Tokyo (1/5)
Der Start einer historischen Sommer-Reihe über einen der wichtigsten Kriegsverbrecherprozesse der Geschichte.
Willkommen zurück. Derzeit befindet sich Ausblick Ost zwar weiterhin in der Sommerpause, dennoch wird es ab sofort eine mehrteilige Artikel-Reihe über den Tokyoter Kriegsverbrecherprozess geben. Durchaus ein Thema, mit dem ich mich in der Vergangenheit intensiv beschäftigen konnte. Quellenverweise direkt im Text wird es dabei nicht geben; dafür aber eine kurze Literaturliste am Ende des Artikels.
In den nächsten Ausgaben dieses Newsletters werde ich versuchen, einige der Angeklagten sowie die Anklage und die Richter näher vorzustellen, die verhandelten Verbrechen zu analysieren und die Ereignisse in einen historischen Kontext einzubetten, um zu erklären, was dieser Prozess für die Gegenwart bedeuten kann und warum eine historische Deutung gerade in Japan immer noch schwierig ist. Heute beginnen wir aber erst einmal mit einer allgemeinen Einführung und einigen ersten Kontroversen, die den Prozess von Beginn an begleitet haben.
Dieser Tage wird im Zuge des Angriffskriegs auf die Ukraine viel über die Einrichtung eines Kriegsverbrechertribunals oder eine mögliche Anklage von Wladimir Putin und der russischen Staatsführung vor dem Internationalen Strafgerichtshof diskutiert. Gerne werden historische Vergleiche bemüht, vom UN-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien oder auch den Nürnberger Prozessen ist dann schnell die Rede. Gerade im westlichen Kontext wird dabei aber ein Tribunal vergessen, welches kurz nach Nürnberg ebenso relevante Grundlagen für das Völkerstrafrecht weiterschreiben konnte: der Kriegsverbrecherprozess in Tokyo. Ab 1946 wurden hier insgesamt 28 ehemalige japanische Regierungsmitglieder, Militärs und auch Vertraute des Kaisers wegen einer Reihe von völkerstrafrechtlichen Verbrechen angeklagt.
Der Schatten von Nürnberg
Als die amerikanischen Truppen im August 1945 die japanische Kapitulationserklärung auf dem Kriegsschiff USS Missouri unterschrieben ließen, der bis dahin als gottgleich geltende Tenno Hirohito zum ersten Mal überhaupt übers Radio zu seinen Untertanen sprach und ihnen die Umstände der Kriegsniederlage erläuterte, begann die Stunde Null des modernen Japan. Unter der alliierten Besatzung, die vor allem eine amerikanische war, sollte das Land nach dem Willen der siegreichen Kriegsparteien systematisch umgebaut werden. Eine erneuerte Verfassung, eine demokratische Grundordnung und vor allem eine Beseitigung des Militarismus waren dabei die Hauptziele.
Gleichzeitig stellte sich ähnlich wie Europa die Frage nach einer umfassenden Aufarbeitung der Kriegsereignisse. Zwar gab es keine mit der Shoa vergleichbaren Vernichtungskampagnen gegen ethnische oder soziale Gruppen in Ostasien; doch die Kaiserlich-Japanische Armee hatte auf dem asiatischen Festland sowie in Südostasien eine Vielzahl an Kriegsverbrechen begangen. Von Zwangsarbeit, Folterung und Vergewaltigung der Zivilbevölkerung, über die mörderische Verfolgung bestimmter politischer Strömungen und dem Einsatz von Rauschmitteln und Giftgasen bis hin zu weitgehend belegbaren, jedoch höchstwahrscheinlich vereinzelten Zwischenfällen von Kannibalismus gab es unzählige Augenzeugenberichte, Aktenbestände und weiteres Beweismaterial, das eine Reihe von Politikern, Militärs und eventuell auch den Tenno schwer belasten konnten.
Der erste Ansatz der Aufarbeitung dieser Verbrechen war auch in Fernost ein juristischer. So wurde unter dem Verwaltungsregime des Oberkommandeurs der Alliierten, General Douglas MacArthur, die Errichtung eines internationalen Kriegsverbrechertribunals in Tokyo beschlossen. Auf den ersten Blick ähnelte das Konzept des Internationalen Gerichtshofs für den Fernen Osten (engl. International Military Tribunal for the Far East, jap. ugs. 東京裁判 Tōkyō Saiban) dem des Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Auch hier sollten wichtige und vor allem überlebende Entscheidungsträger der unterlegenen Kriegspartei von einer Richterbank verurteilt werden, die von Richtern der siegreichen Nationen besetzt war. Ebenso wie in Nürnberg sollten auch in Tokyo die Anklagepunkte “Verschwörung” (gegen den Weltfrieden), “Verbrechen gegen die Menschlichkeit” und “Kriegsverbrechen” verhandelt werden. Als Unterschied wurden unter dem Oberbegriff “Mord” jedoch auch einige Verbrechen gegen die Sowjetunion verhandelt. Ebenso wie beim Nürnberger Prozess gab es keinen Anklagepunkt “Völkermord”. Zum einen, weil wie bereits erläutert die Beweislage in Ostasien gegen ein so zu verstehendes Verbrechen sprach; zum anderen, weil der Genozid gegen Ende des Zweiten kein akzeptierter Bestandteil des Völkerstrafrechts war, sondern erst nach der Verabschiedung der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 schrittweise an Akzeptanz gewann.
Was Tokyo von Nürnberg unterscheidet
Doch einige Rahmenbedingungen lassen den Tokyoter Prozess kontroverser erscheinen als sein europäisches Pendant. So waren nicht wie in Nürnberg lediglich acht Richter der vier großen Siegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich vertreten. Stattdessen wurde die Anzahl der Länder, die einen Richter nach Tokyo schicken sollten, auf elf erhöht. Neben den vier genannten waren dies die Republik China, Indien, Kanada, die Niederlande, die Philippinen, Australien und Neuseeland. Alle hier genannten Nationen waren entweder vom japanischen Angriffskrieg betroffene pazifische Anrainerstaaten oder besaßen Kolonien, in denen sich einige der zu verhandelnden Straftaten ereignet haben sollten. Ebenso schickte jedes Land einen Ankläger zum Prozess. Durch diese Vielzahl an interessierten Parteien und Sprachen musste sich das Tribunal auf einen äußerst langen Prozess einstellen: während die Verhandlung in Nürnberg ein knappes Jahr dauerte, wurde ein gültiges Urteil in Tokyo erst nach zweieinhalb Jahren im November 1948 verkündet. Ein Großteil des Budgets wurde für die aufwendigen Dolmetscherarbeiten und die wortgenauen Transkriptionen in englischer und japanischer Sprache verwendet.
Zudem war die Übernahme des Nürnberger Anklagepunktes der “Verschwörung” von Beginn an kontrovers behandelt worden: während man in Deutschland durch die verfassungsrechtlich illegale Machtübernahme der Nationalsozialisten und die fast augenblicklich einsetzende Vorbereitung eines großflächigen Angriffs- und Vernichtungskriegs gegen Nachbarstaaten eine recht klar umrissene Vorstellung einer Verschwörung gegen die bestehende Ordnung ausmachen konnte, waren die politischen Verhältnisse im Vorkriegsjapan weit weniger eindeutig zu erklären. Zwar gab es in der Vorkriegszeit Akte politischer Gewalt wie etwa die Ermordung von Regierungschefs, die schleichende Machtkonzentration im Führungskommando des Militärs und die fast außerstaatliche Struktur der in der Mandschurei stationierten Kwantung-Armee. Jedoch gab es im Kaiserreich Japan keine faschistische Parteinorganisation wie bei der NSDAP noch andere zivile oder militärische Organisationen, die in ihrem Einfluss, Organisationsgrad und ihren kriminell einzustufenden Aktivitäten mit Nazideutschland eins zu eins vergleichbar gewesen wären.
Ebenso fehlt ein klarer Ausgangspunkt für eine Verschwörung gegen den Weltfrieden, dafür konnten jedoch eine Reihe von Versuchen kolonialistischer Expansion auf dem chinesischen Festland und darüberhinaus als Beweise herangezogen werden.
Ein weiterer Unterschied war die Existenz eines eindeutig Hauptverdächtigen, der von den Alliierten aus taktischen Gründen jedoch nicht vor Gericht werden sollte: Kaiser Hirohito, in dessen Namen die unzähligen Verbrechen des japanischen Militärs verübt worden waren und der offenbar durch eine einzige Radioansprache die Kapitulation eben dieser Armee herbeirufen konnte. Hätte man in Nürnberg Adolf Hitler, sofern er noch am Leben gewesen wäre, ohne Umschweife vor Gericht gestellt, unterließ man nach einigen Kontroversen – und laut Historikerinnen wie Yuma Totani auch gegen den Willen von General MacArthur – eine Anklage gegen das japanische Staatsoberhaupt.
Der niederländische Richter Bert Röling, der hier aufgrund eines fantastischen, viele Jahrzehnte später veröffentlichten Interviews mit dem späteren Richter des Jugoslawien-Tribunals, Antonio Cassese, immer mal wieder zitiert werden soll, erklärte diese Entscheidung bezüglich Kaiser Hirohito rückblickend folgendermaßen (meine Übersetzung und Hervorhebung):
Was den Kaiser betrifft, so war er ein Symbol für die Nation. Die Japaner betrachten den Kaiser als die Essenz Japans. Aber er hatte überhaupt keine Macht. Er war ein konstitutioneller Kaiser. Wenn man sich anschaut, wie die Dinge in Japan gehandhabt wurden, ist es ziemlich klar, dass die Regierung die Entscheidung traf, in den Krieg zu ziehen, und nachdem die Regierung sich entschieden hatte, wurde der Kaiser hereingebeten, und er stimmte zu. Das war das Einzige, was er tun konnte.
Ob die Zustimmung zur Kriegserklärungen wirklich das Einzige war, was der Tenno tun konnte, wird jedoch aus heutiger Sicht von vielen Experten stark angezweifelt. Da die Aktenlage jedoch eher dünn ist, ist hier eine Menge Fingerspitzengefühl und Abwägung gefragt. Die Angelegenheit lässt sich hier nicht abschließend erörtern.
Dennoch kann die fehlende Anklage gegen den Tenno als ein Akt sogenannter Transitional Justice eingestuft werden. Im Völkerrecht werden damit überwiegend politische Entscheidungen bezeichnet, die, um den Willen eines friedlichen und geordneten Übergangs in eine neue rechtliche Ordnung, die Verfolgung bestimmter Verbrechen oder Verdächtiger unterbindet. Modernere Beispiele lassen sich etwa nach dem Völkermord in Ruanda 1994 oder auch nach den Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Rebellen 2017 erkennen. Opfern und Hinterbliebenen wird so zum Wohle eines Rechtsfriedens die Möglichkeit entzogen, gegen erlebtes Unrecht juristisch vorzugehen. Unwohlsein mit der Sonderbehandlung des Tenno verspürte offenbar auch der Vorsitzende Richter des Tribunals, der Australier William Webb. Diese Meinung lässt sich aus seiner abweichenden Meinung zum gefällten Urteil herauslesen.
Eine weitere Randnotiz, die dem Associated Press-Korrespondent Arnold Brackman in seinem Bericht über die Verhandlungen aufgefallen war, ist die Tatsache, dass der Verhandlungsaal sehr hell erschien und überdies mit einer Vielzahl von Fernsehkameras ausgestattet war: das Ereignis sollte, noch bewusster als in Nürnberg, für die Öffentlichkeit und vor allem für die Medien aufbereitet werden. So bekommt der Begriff show trial eine interessante neue Bedeutung.
In der kommenden Ausgabe sollen in einigen markanten Beispielen die schuldigen und teilweise weniger schuldigen Angeklagten sowie einige der der oft überrumpelt wirkenden Richter und auch der aus heutiger Sicht vermutlich alkoholkranke amerikanische Chefankläger näher vorgestellt werden. Es bleibt also spannend.
In diesem Text zitierte Werke:
Yuma Totani, The Tokyo War Crimes Trial
B.V.A. Röling, The Tokyo Trial and Beyond: Reflections of a Peacemonger (herausgegeben von Antonio Cassese)
William Webb, Separate Opinion of the President of the IMTFE
Futamura Madoka, War Crimes Tribunals and Transitional Justice. The Tokyo trial and the Nuremberg legacy.
Arnold C. Brackman, The other Nuremberg : the untold story of the Tokyo war crimes trials
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