Ausblick Extrablatt: Die Verbrechen von Tokyo (2/5)
Willkommen zur zweiten Ausgabe unserer Sommer-Reihe zum Kriegsverbrechertribunal von Tokyo. Die erste Ausgabe ist hier nachzulesen.
Am heutigen 1. Juli feiert übrigens der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, der sich in seiner Rechtsprechung auch auf die Präzedenzfälle von Nürnberg und Tokyo bezieht, sein zwanzigjähriges Bestehen. Umso passender, dass es heute um einige der in Tokyo verhandelten Kriegsverbrechen gehen soll, die bis heute Relevanz im Völkerstrafrecht besitzen.
Kriegsverbrecherprozesse - Wie können Beweise gesammelt werden?
Als eine der größten Herausforderungen stellte sich in Tokyo – wie übrigens auch in anderen vergleichbaren Prozessen – die Sammlung und Auswertung von Beweismitteln heraus. Schließlich musste einwandfrei belegt werden, dass die Hauptangeklagten tatsächlich von den Verbrechen, die sich in ganz Asien ereignet hatten, Bescheid wussten und sie befördert und geduldet, zumndest jedoch nicht aktiv verhindert haben.
Gleichzeitig musste die Anklage belegen können, dass diese Verbrechen sich tatsächlich so ereignet hatten. Das Problem hierbei: wie konnten tatsächlich objektive Beweise gefunden werden? Augenzeugenberichte sind, wie auch fortdauernde wissenschaftliche Untersuchungen belegen, ein äußerst unbefriedigendes Beweismittel, da sich Erinnerungen oft als verzerrt, unvollständig oder nicht mit der Realität übereinstimmend herausstellen. Sie können Anhaltspunkte bieten, sind als ausschließliches Beweismittel jedoch mit Vorsicht zu genießen.
Jedoch lässt sich über den damaligen japanischen Staat – ebenso wie über Nazi-Deutschland – festhalten, dass es sich zwar um einen Unrechtsstaat gehandelt hat. Dennoch haben beide Unrechtsregime die eigenen Verbrechen detailliert in Dokumenten und anderen Aufzeichnungen vermerkt, was die Verfolgung dieser im Nachhinein systematisch erleichterte. Und auch wenn viele dieser Unterlagen in den letzten Kriegstagen zerstört oder verbrannt wurden, war die Aktenlage in Tokyo oftmals eindeutig.
Hinzu kommt, dass es eine so umfassende Menge an unabhängig voneinander übereinstimmenden Augenzeugenberichten aus den betroffenen Ländern und Regionen gab, dass sich auch so ein eindeutiges Bild über die japanischen Kriegsverbrechen ergab.
Die Ankläger der einzelnen Länder (Republik China, Vereinigtes Königreich, Neuseeland, Australien, USA, Philippinen, UdSSR, Niederlande, Frankreich, Indien und Kanada) legten dabei jeweils den Fokus auf das eigene Staatsgebiet beziehungsweise auf die eigenen Kolonien oder Bereiche, die aus der nationalen Sicht von Interesse waren. Für die USA war vor allem der Angriff auf Pearl Harbor, der den amerikanischen Eintritt in den Krieg auslöste, von zentraler Bedeutung. Für Großbritannien wiederum waren die Kriegsverbrechen in Singapur und Hong Kong und die Behandlung von Kriegsgefangenen in Südostasien interessant.
Als Beispiel sollen hier zwei der bekanntesten Verbrechenskomplexe noch einmal näher vorgestellt werden. Beide beziehen sich auf den Anklagepunkt der konventionellen Kriegsverbrechen.
Beispiel 1: Das Massaker von Nanjing
Für die chinesische Anklage waren vor allem die Kriegsverbrechen in der damaligen Hauptstadt der Republik, Nanjing (oft auch Nanking geschrieben), von Relevanz in der Verhandlung vor Gericht. Der in Tokyo angeklagte General Matsui Iwane hatte Ende 1937 die Befehlsgewalt über die japanischen Truppen in der entsprechenden Region in China. Das „Massaker von Nanking“, bei dem kurz vor Weihnachten zwischen 200.000 und 300.000 Menschen ermordet und etwa 20.000 weibliche Personen vergewaltigt wurden, spielte sich größtenteils vor dem Einzug Matsuis in die Stadt Nanjing ab. Jedoch war er bereits Tage zuvor über die Zustände informiert worden und hatte trotz seiner Kommandogewalt nicht eingegriffen. Die chinesische Anklage hatte zahlreiche Augenzeugen nach Tokyo geladen, wie Yuma Totani mit Berufung auf die Prozessprotokolle berichtet. Hier ein Beispiel (meine Übersetzung):
Ein Einwohner der Stadt Nanking, Shang Teh-yi, wurde in den Zeugenstand gerufen, um eine Aussage zu machen [...]. Am Morgen des 16. Dezember 1937, um 11 Uhr, verhafteten Japaner den Zeugen, seinen älteren Bruder, seinen Cousin und fünf weitere männliche Nachbarn. Die Gefangenen wurden mit Seilen gefesselt und zusammen mit mehr als 1.000 anderen männlichen chinesischen Zivilisten gewaltsam an das Ufer des Jangtse-Flusses gebracht. [...] Shang sagte aus, dass die japanische Armee an diesem Nachmittag gegen 4 Uhr begann, die gefangenen Männer am Flussufer im Schnellverfahren hinzurichten. Sie benutzten Maschinengewehre [...]. Der Zeuge überlebte das Massaker, weil er fiel, bevor das Schießen begann. Leichen, die über ihn stürzten, schützten ihn während der Schießerei.
Die Beweislage der direkt Betroffenen wird auch durch die Aufzeichnungen ausländischer Geschäftsleute gedeckt. Zu den bekanntesten Beobachtern gehörte der deutsche Siemens-Manager John Rabe, der auf dem Gelände der Firma in Nanjing zahlreiche chinesische Zivilistinnen und Zivilisten vor den japanischen Truppen retten konnte. Seine Tagebucheinträge wurden ebenfalls in Tokyo zitiert.
Beispiel 2: Die Burma-Thailand-Eisenbahn
Ein weiteres berühmtes Beispiel für japanische Kriegsverbrechen ist die sogenannte „Thailand-Burma-Eisenbahn“, deren Strecke von der japanischen Armee unter Verwendung verbotener Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen und Zivilisten gebaut wurde und der militärischen Versorgung dienen sollte. Nach internationalen Konventionen war diese Art der Arbeit eindeutig verboten. Bekannt sind die Ereignisse im Westen vor allem durch den Roman und Film „Die Brücke über den Fluss Kwai“, der jedoch ein verzerrtes Bild der Realität darstellt und überwiegend die Leiden der westlichen Kriegsgefangenen in den Mittelpunkt stellt. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache: so gab es etwa 62.000 westliche Zwangsarbeiter, von denen rund 12.000 bei den Bauarbeiten gestorben sind. Jedoch gab es zeitgleich circa 200.000 Zivilisten aus Südostasien, die zur Zwangsarbeit rekrutiert wurden; von ihnen starben 74.000.
Auch hier war einer der beschuldigten Angeklagten, der General Tojo Hideki, nicht selbst vor Ort. Jedoch ist auch hier durch Dokumente und auch durch Tojos eigene Aussagen vor Gericht belegbar, dass er von den Vorfällen Bescheid wusste.
Sowohl der Fall von Iwane in Nanjing als auch der von Tojo deuten auf ein wichtiges völkerstrafrechtliches Prinzip hin, dass sich auch durch den Kriegsverbrecherprozess von Tokyo weiter etablieren konnte: die sogenannte Befehlshaberverantwortlichkeit oder command responsibility. Zum ersten Mal wurde die Verantwortung von Vorgesetzten übrigens bei einem Prozess in den Philippinen gegen den japanischen General Yamashita 1945 verwendet, weshalb man im Völkerrecht auch immer noch vom Yamashita precedent spricht. Dieses inzwischen über weitere die Befehlsstruktur ausgewaltete Konzept der Verantwortung ist bis heute relevant in Kriegsverbrecherprozessen und könnte etwa auch bei eventuellen juristischen Nachverhandlungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine die Verantwortlichkeit der russischen Staatsführung begründen.
Ein weiterer interessanter Fall, der mit dem Bau der Eisenbahnstrecke in Burma verbunden ist, war der des ebenfalls in Tokyo angeklagten ehemaligen Außenministers Shigemitsu Mamoru. Dieser hatte General Tojo und die Militärführung zwar um eine Verbesserung der Situation gebeten, sich aber nicht durchsetzen können. Das Gericht hatte ihn auch aus diesem Grund für mitschuldig befunden, da er keine weiteren Konsequenzen zog. In seiner abweichenden Meinung sprach sich dagegen der niederländische Richter Röling gegen eine Verurteilung des Angeklagten Shigemitsu aus, da dieser keinen Einfluss auf die Entscheidungen des Militärs gehabt hätte.
Bewusste Lücken? Was nicht verhandelt wurde
Neben der fehlenden Anklage gegen das japanische Staatsoberhaupt, den Tenno Hirohito, war vor allem eine andere Lücke in der juristischen Aufarbeitung durch den Kriegsverbrecherprozess bemerkenswert: keiner der Angeklagten wurde völkerrechtswidriger Experimente und der Verwendung von Giftgas in China beschuldigt. Bereits damals gab es umfangreiche Belege für die Existenz der japanischen „Einheit 731“, die solche Experimente an der chinesischen Zivilbevölkerung ausgeübt hatte. Der niederländische Richter Bert Röling berichtet im Nachhinein, was über den Verbleib der ominösen Einheit nachträglich bekannt wurde (meine Übersetzung):
Sie wurden von den Amerikanern gefangen genommen und in die Vereinigten Staaten gebracht. Mit dem Versprechen, dass sie nicht strafrechtlich verfolgt würden, wurden sie überredet, den Amerikanern alles mitzuteilen, was sie bei den Experimenten herausgefunden hatten. Offenbar wollten die amerikanischen Militärs von den Verbrechen der Japaner profitieren, um ihr Wissen über biologische Kriegsführung zu erweitern. Nach diesen neuen Informationen brachten die Amerikaner sogar den japanischen Leiter des Unternehmens nach Korea und nutzten sein Wissen über biologische Kriegsführung im Koreakrieg. Jedenfalls wurde die ganze Angelegenheit der biologischen Experimente an chinesischen Soldaten und des japanischen Einsatzes von B-Waffen im Zweiten Weltkrieg dem Tribunal absichtlich vorenthalten. Offenbar wollten die Amerikaner ungestört von den kriminellen japanischen Aktivitäten profitieren.
Solche fragwürdigen Taktikten der Siegermacht USA unterminieren natürlich die Objektivität und Bedeutung eines so aufwendigen Prozesses wie dem Tokyoter Kriegsverbrechertribunal, rufen Zweifel in den damals betroffenen Ländern wie China hervor und unterstützen zugleich die These japanischer Nationalisten, der Prozess sei reine „Siegerjustiz“ gewesen und Japan sei insgesamt unfair behandelt worden.
Eine der weiteren Auslassungen betrifft auch die Problematik der Trostfrauen, also der überwiegend koreanischen Frauen, die zur Arbeit in Militärbordellen zwangsprostituiert und verschleppt wurden. Bis heute belastet die fehlende Aufklärung das bilaterale Verhältnis zwischen Tokyo und Seoul. Ihr Schicksal spielte in dem Prozess keine Rolle.
Wenn man jedoch diese bewussten Lücken in der Anklage beiseite lässt, ergibt sich dennoch eine erdrückende Beweislast, die den Prozesstranskripten zufolge auch die international besetzte Verteidigung der mutmaßlichen Kriegsverbrecher regelmäßig in Erstaunen versetzte und eine konsistente Verteidigungsstrategie unmöglich machte.
Soweit die heutige Ausgabe. Im dritten Teil werden die Anklage und Verteidigung sowie die weiteren Strukturen des Tribunals ein wenig näher vorgestellt, bevor wir uns im vierten Teil dem Urteil und uns danach abschließend der umstrittenen Rolle des Kriegsverbrecherprozesses in der Gegenwart widmen werden.
Verwendete Quellen:
International Military Tribunal for the Far East, Judgement, Chapter VIII, Conventional War Crimes
Kathryn J. Witt, Comfort Women: The 1946-1948 Tokyo War Crimes Trials and
Historical BlindnessHistorical Blindness
Yuma Totani, The Tokyo War Crimes Trial
Antonio Cassese (Hrsg.), B.V.A. Röling, The Tokyo Trial and Beyond: Reflections of a Peacemonger. (herausgegeben von Antonio Cassese)
Futamura Madoka, War Crimes Tribunals and Transitional Justice. The Tokyo trial and the Nuremberg legacy.
Erwin Wickert (Hrsg.), John Rabe. Der gute Deutsche von Nanking.
Richard L. Lael, The Yamashita Precedent: War Crimes and Command Responsibility