Ausblick Extrablatt (3/5): Die Anklage von Tokyo
In welcher wir uns mit einigen oft kritisierten Anspekten des internationalen Tribunals beschäftigen.
Willkommen zurück zur dritten Ausgabe unserer Sommer-Reihe zum Tokyoter Kriegsverbrecherprozess. Dieses Mal steht die rechtliche Grundlage für die Anklage im Mittelpunkt. Außerdem schauen wir uns an, warum die internationale Anklage unter Führung der USA ein so schlechtes Bild abgab.
Anklagen trotz Lücken im Völkerstrafrecht?
Auch wenn ich es in der ersten Ausgabe schon einmal angerissen habe, ist die Tatsache, dass das Völkerstrafrecht 1946 nur in Ansätzen kodifiziert war, hier noch einmal hervorzuheben. Die Alliierten unter Führung der Amerikaner und des Oberbefehlshabers MacArthur mussten also die wenigen vorhandenen und als universell anerkannten Rechtsquellen des internationalen Rechts heranziehen und diese hier und dort durch ein wenig Kreativität ergänzen.
Ein hauptsächliches Problem für die Erstellung von Straftatbeständen, in Nürnberg wie in Tokyo, war das Fehlen echter Präzedenzfälle. Selten gab es vor dem Zweiten Weltkrieg die Bemühung, vermeintliche Kriegsverbrecher als Vertreter eines Staates nach dem Krieg vor ein Tribunal zu stellen und nach möglichst objektiven Kriterien fair zu verurteilen.
Vielleicht einer der wichtigsten Präzedenzfälle ist einer, der nie stattgefunden hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg waren die siegreichen Staaten – allen voran Großbritannien, Frankreich und Italien – nämlich daran interessiert, Kaiser Wilhelm den Zweiten für die vom Deutschen Reich begangenen Verbrechen vor ein internationales Gericht zu stellen. Bekanntlich kam es nie dazu, auch weil das geflüchtete deutsche Staatsoberhaupt sich im sicheren Exil in den Niederlanden befand. Dennoch sah Artikel 227 des Versailler Friedensvertrags vor, Wilhelm wegen „des höchsten Verbrechens gegen die internationale Moral und gegen die Unverletzlichkeit von Verträgen“ anzuklagen.
Wichtig ist hier: die Idee, ein Individuum für die von einem Staat begangenen Verbrechen juristisch zu belangen, existierte zumindest als abstrakte Idee. Individuen traten als Rechtssubjekte ins Völkerrecht ein, welches bisher nur Staaten als solche anerkannt hatte. Vor allem die USA waren 1919 jedoch gegen eine solche Verurteilung des ehemaligen Kaisers.
Die nachfolgende Zeit zwischen den Kriegen erlaubte es der im Völkerbund nun zum ersten Mal institutionalisierten Internationalen Gemeinschaft, die Idee eines “Verbrechens der Aggression” fortzusetzen und weiterzuentwickeln. Das Statut des Völkerbundes nennt etwa in Artikel 10 das Verbot von Aggression zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten:
Die Mitglieder des Völkerbundes verpflichten sich, die territoriale Integrität und die bestehende politische Unabhängigkeit aller Mitglieder des Völkerbundes zu achten und gegen äußere Angriffe zu schützen.
Hinzu kommt auch der sogenannte Briand-Kellog-Pakt von 1928. Jenes Dokument, angestoßen vom französischen und vom amerkianischen Außenminister, sah ein vollkommenes Gewaltverbot zwischen den Unterzeichnerstaaten vor. Zu denen gehörte seit dem 24. Juli 1929 auch Japan.
Auch wenn Japan anschließend den Völkerbund verließ und der Brian-Kellog-Pakt keine Sanktionsmechanismen gegen einen Vertragsbruch vorsah, argumentierten die alliierten Juristen in Tokyo 1946, dass das Verbrechen der Aggression bereits international geächtet war. Japanische Regierungsmitglieder konnten so wegen des Überfalls auf die Republik China und späterer Angriffe, unter anderem auf Pearl Harbor, durchaus durch ein internationales Tribunal zur Verantwortung gezogen werden.
Da Japan im Falle der Besatzung der chinesischen Mandschurei und auch in anderen Fällen jedoch keine offizielle Kriegserklärung ausgesprochen hat, spricht das Statut des Tribunals auch dann von einem Verbrechen der Aggression, wenn ein Krieg „unerklärt“ erfolgt. Auch in einem solchen Fall beansprucht das Tribunal also seine Zuständigkeit, um so ein Vergehen sanktionieren zu können.
Diese Interpretation war juristisch nicht ganz zweifelsfrei. So äußerten damals auch amerikanische Juristen, die mit den Vorbereitungen des Kriegsverbrechertribunals in Tokyo beschäftigt waren, die Meinung, es handele sich um reine „Siegerjustiz“ gegen das japanische Kaiserreich.
Yuma Totani führt in ihren Analysen jedoch aus, dass nach dem Zweiten Weltkrieg auch eine Mehrheit der führenden japanischen Juristinnen und Juristen eine Grundlage für ein solches Tribunal als gegeben ansahen.
Der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess wiederum lieferte den Alliierten für den Prozess in Tokyo die Möglichkeit, den Straftatbestand der „Verschwörung“ mit aufzunehmen. Dieses stammt, wie vor einigen Wochen bereits ausgeführt, aus dem anglo-amerikanischen Rechtsraum und wurde vor allem zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens in den USA seit den 1930ern eingesetzt. Während eine enge Zusammenarbeit der Nazi-Verbrecher in Nürnberg zwar nachvollziehbar erschien, war die bunt gemischte Truppe der Angeklagten in Tokyo kaum als ein organisierter Zusammenschluss zu erkennen. Viele der 28 Angeklagten kannten sich nicht persönlich, viele gehörten unterschiedlichen Gruppierungen und Faktionen innerhalb der Staatsorganisation an.
Störfaktor USA
Von diesen festgelegten Straftatbeständen ausgehend, muss vor allem die Handlungsweise der internationalen Anklage näher betrachtet werden. Jedes der „siegreichen“ Länder durfte einen eigenen Abschnitt im Prozess anleiten. Dies geschah unter der Leitung des US-amerikanischen Chefanklägers Joseph Keenan.
Keenan war eine mehr als streitbare Person in Tokyo, vor allem auch für seine Kollegen. Der neuseeländische Ankläger etwa beschwerte sich in seiner Korrespondenz mit Wellington mehrfach über die Inkompetenz seines Vorgesetzten. Eine Gruppe von Anklägern der gesamten Commonwealth-Staaten versuchte mehrfach, Keenan absetzen zu lassen. Und das aus guten Gründen.
Joseph Keenan war ein Mann, der das Rampenlicht liebte. Er gab in Tokyo gerne Pressekonferenzen, um die internationalen und vor allem die amerikanischen Medien über den grandiosen Verlauf der Vorbereitungen zu unterrichten. Leider sah die Realität anders aus. Keenan selbst brachte seine Untergebenen immer wieder an den Rand der Verzweiflung, weil die Prozessvorbereitungen der Anklage fast ausschließlich ins Leere liefen. Fast alle Ressourcen wurden genutzt, um stunden- und tagelange Verhöre durchzuführen. Viel sinnvoller wäre es gewesen, zumindest aus Sicht der anderen Ankläger, notweniges und im Gerichtsprozess verwendbares Beweismaterial wie Akten und andere Dokumente sicherzustellen. Dies geschah jedoch fast gar nicht. Auch schaffte Keenan bei der Vielzahl der anklagenden Staaten keine einheitliche Front und die Ankläger der einzelnen Länder verfolgten unbeirrt parallele und individuelle Anklagestrategien, die sich aufgrund der fehlenden Disziplin und Kommunikation nicht immer ergänzten.
Zudem war Keenan während des Prozesses wiederholt abwesend, ohne seinem Kollegium eine Erklärung dafür abzugeben. Dies geschah während der Prozessvorbereitung, aber auch direkt nach Beginn der Verhandlungen. In letzterem Fall war Keenan sogar monatelang in den Vereinigten Staaten und für seine Kollegen nicht zu erreichen. Er war verschiedenen Quellen zufolge wohl alkoholkrank. Ob sich seine langen Phasen der Abwesenheit mit diesem Umstand erklären lassen, ist aus heutiger Sicht jedoch nicht abschließend geklärt.
Der größte Fehler Keenans aus Sicht der anderen Ankläger war es jedoch, sich auf eine öffentlichkeitswirksame Vernehmung des Hauptverdächtigen, des ehemaligen Premierministers Tojo Hideki, einzulassen. Keenan war auf ein solches öffentliches Verhör schlechter vorbereitet als andere Ankläger, die sich viel tiefer in die Materie eingearbeitet hatten. Dies führte dazu, dass Keenans Fragen an Tojo meistens recht unpräzise waren. Dies ermöglichte dem Angeklagten, dem unwissenden Keenan irgendwelche Heldengeschichten zu erzählen, die ihn und die durch Asien marodierende japanische Armee in ein besseres Licht rücken konnten. Dies führte nachfolgend dazu, dass General Tojo sich in weiten Teilen der japanischen Bevölkerung plötzlich wieder rehabilitieren konnte.
Trotz dieser persönlichen Rehablitierung änderte auch Keenans fehlerhaftes Verhalten nichts daran, dass am Ende des Prozesses alle Angeklagten in unterschiedlichen Abstufungen für schuldig erklärt wurden. Die Beweislast aus Sicht der Richter war auch unabhängig von der zweifelhaften Anklageführung eindeutig und belastete fast alle Angeklagten schwer. Welche Kontroversen es um die einzelnen Urteile und die abweichenden Meinungen einiger Richter gab, wird Thema des nächsten Extrablatts sein.
Verwendete Quellen:
Yuma Totani, The Tokyo War Crimes Trial.
Interview mit Yuma Totani unter anderem über die Rolle von Chefankläger Joseph Keenan.
Emily Rose-Baker, The Kaiser’s Trial: How a Case that Never Happened Helped Create the International Criminal Justice System (LA Review of Books).
Futamura Madoka, War Crimes Tribunals and Transitional Justice. The Tokyo trial and the Nuremberg legacy.
Quincy Wright, The Concept of Aggression in International Law (The American Journal of International Law).
Kerstin von Lingen, Transcultural Justice at the Tokyo Tribunal. The Allied Struggle for Justice, 1946-48.
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