2021/Woche 21: Schluss mit dem ganzen Pazifismus
Kurz vor der Sommerpause blicken wir zu den Grünen. Außerdem: Ankündigungen und Empfehlungen.
Zwei kleine Ankündigungen vorweg: Heute und nächste Woche erscheinen die letzten beiden planmäßigen Newsletter vor der Sommerpause. Ende August geht es dann voraussichtlich weiter. Trotzdem wird es in den nächsten Wochen immer mal wieder Extra-Ausgaben geben. Unter anderem plane ich Buchrezensionen und eventuell auch die Neubearbeitung einiger Arbeiten, die bei mir im Archiv liegen und die durchaus interessant sein könnten.
Außerdem werde ich am 29. Juni eine Veranstaltung mitgestalten: vom ThinkTank Polis180 haben wir einen Buchclub zum Roman „Die Ladenhüterin“ von Murata Sayaka geplant. Eingeladen zu diesem Event ist übrigens auch die deutsche Übersetzerin, Ursula Gräfe, die viele auch als Übersetzerin der Bücher von Murakami Haruki ein Begriff sein dürfte. Mehr Details über das kurzweilige Buch und zur Zoom-Veranstaltung gibt es dann nächste Woche an dieser Stelle.
Und nun weiter im Programm…
Wahlmonitor (4/5): Die Grünen - Harte Linie statt Pazifismus?
Wenn sich die Grünen heute zu ihrem digitalen Bundesparteitag treffen, werden die Fetzen sicherlich weniger fliegen in der Vergangenheit. Dennoch dürften viele Themebereiche weiterhin für Kontroversen sorgen. Nicht zuletzt in der Außenpolitik hat sich die Partei in den letzten Jahren stark gewandelt.
Auf dem Weg von der einstigen Protestpartei zur staatstragenden politischen Kraft haben die Grünen sich dabei auch in der außenpolitischen Haltung gewandelt. Im öffentlichen Bewusstsein erkennt man das vor allem in Bezug auf Projekte wie der Ostseepipeline Nordstream 2 oder die Ukraine.
Dabei sollte man nicht vergessen, dass die Partei außenpolitisch auch gerne mal über Europa hinausschaut. Kein Politiker verkörpert dabei die außenpolitische Perspektive der Grünen auf Ostasien besser als Reinhard Bütikofer, passionierter Twitterer und ausgewiesener China-Experte.
Als Europaabgeordneter ist der ehemalige Parteichef inzwischen der Vorsitzende der Delegation für die Beziehungen zur Volksrepublik China im Europaparlament. War er vor Jahrzehnten sogar Mitglied in einer maoistischen Hochschulgruppe, so hat sich Bütikofer inzwischen zu einem der stärksten Kritiker Pekings in Brüssel entwickelt. Vor allem nach dem Abschluss der EU-China-Verhandlungen zum gemeinsamen Investitionsabkommen war harsche Kritik aus dem Europaparlament zu hören. Aufgrund der Gesetzgebungsprozesse der EU hätte das Abkommen noch vom Europaparlament verabschiedet werden müssen. Das Vorhaben liegt für absehbare Zeit aber auf Eis, was für viel Verstimmung in China gesorgt hat.
So war es auch kein Wunder, dass die Regierung der Volksrepublik dieses Jahr dann Sanktionen etwa gegen europäische Thinktanks wie MERICS verhängte – und gegen individuelle Politikerinnen, wie auch Bütikofer.
Auch die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, die als Völkerrechtlerin einen etwas globaleren Blick auf gewisse Themenfelder hat viele als Mitglieder der derzeitigen Regierung, hat sich zur stärkeren Positionierung Europas gegenüber Menschenrechtsverletzungen weltweit bekannt. Unter anderem, so erzählt Baerbock in einem Interview mit CNN-Moderator Fareed Zakaria, könne man den Zugang von Produkten aus chinesischen Provinz Xinjiang zum europäischen Markt konsequenter versperren, um den dort stattfindenden Völkermord nicht indirekt wirtschaftlich zu unterstützen.
Zu einer einheitlicheren europäischen Außenpolitik wird sie von Politico Europe übrigens so zitiert (meine Übersetzung):
Baerbock sagte, Deutschland müsse sich mit den Vorschlägen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zur europäischen Verteidigung auseinandersetzen. "Das bedeutet auch, über [militärische] Auslandseinsätze zu sprechen", sagte sie.
Sie zeigte sich auch offen für eine Erhöhung des deutschen Verteidigungshaushalts, eine langjährige amerikanische Forderung, um das notorisch schlecht ausgestattete Militär des Landes zu stärken.
Wenn nun von einer Stärkung des Militärs gesprochen wird, wird damit nicht nur Russland ins Visier genommen. Wie hier mehrfach kommentiert, haben inzwischen mehrere europäische Länder von den Niederlanden über Deutschland bis Frankreich eigene Indopazifik-Leitlinien verabschiedet, die einen klaren Anspruch auf europäische Militärpräsenz etwa im südchinesischen Meer erheben, um verbündeten Staaten gegenüber China zur Seite zu stehen.
Die Umsetzung solcher strategischen Ziele scheiterte bisher, wie so vieles in Europa, vor allem an der deutschen Bundesregierung, auch aufgrund der Zurückhaltung der Union. Die SPD, deren Außenminister Maas die deutschen Indopazifik-Leitlinien letztes Jahr vorstellte, dürfte deutlich bereiter sein, proaktiv außenpolitisch tätig zu werden. Die CDU hat China vor allem als Autoabsatzmarkt verstanden, was aus vielerlei Hinsicht in Zukunft problematisch werden könnte.
Und dennoch liest sich die grüne Haltung zu China dann differenzierter im Entwurf zum Wahlprogramm 2021. Zuerst werden die gemeinsamen Herausforderungen in den Mittelpunkt gestellt, die ohne Peking nicht zu lösen sind:
Gerade in Zeiten, die zunehmend unter den Vorzeichen eines Systemwettbewerbs zwischen demokratischen Staaten und China stehen, setzten wir auf eine proaktive Handelspolitik. Wir wollen einen mul-tilateralen Welthandel und Handelsabkommen, die dem Wohlstand aller Menschen dienen, die Umwelt- und Klimaschutz einfordern und die Beziehungen mit unseren Partnern im Einsatz für Demokratie und Freiheit stärken. Eine Zersplitterung von Handelsbeziehungen erschwert ein internationales Miteinander.
[…]
Zugleich wird eine globale sozial-ökologische Transformation ohne China […] nicht möglich sein. Das allein zeigt: Der Systemwettbewerb mit autoritären Staaten und Diktaturen ist real, lässt bisweilen nur die Wahl zwischen Regen oder Traufe – und stellt uns vor derart beachtliche Aufgaben, dass jede Form des Alleingangs zum Scheitern verurteilt wäre.
Doch es wird auch Kritik geäußert, und die Sicherheit Taiwans findet hier ebenso Platz wie im Wahlprogramm der FDP:
Wir verlangen von China ein Ende seiner eklatanten Menschenrechtsverletzungen etwa in Xinjiang und Tibet und zunehmend auch in Hongkong. Es braucht dennoch einen konstruktiven Klima-Dialog mit China und wir streben gemeinsame politische, wirtschaftliche und technologische Anstrengungen zur Be-kämpfung der Klimakrise an. Die Kooperation mit China darf nicht zu Lasten von Drittstaaten oder von Menschen- und Bürger*innenrechten gehen. Wir halten uns an Europas „Ein-China-Politik“ und betonen, dass Chinas Vereinigung nicht gegen den Willen der Bevölkerung Taiwans erzwungen werden darf. Unsere Handelsbeziehungen mit China wollen wir nutzen, um fairen Marktzugang für ausländische Investitionen, Rechtssicherheit und gleiche Wettbewerbsbedin-gungen einzufordern. Wir erwarten, dass China die entscheidenden Kernnormen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO ratifiziert und die Zwangsarbeit beendet. Das europäische Lieferkettengesetz muss angesichts der Menschenrechtsverletzung – etwa in Xinjiang – Waren aus Zwangsarbeit den Zugang zum Binnenmarkt ebenso verwehren, wie es Unternehmen für ihre Produkte in Haftung nimmt.
Zwei Anmerkungen: Ich werde ja nicht müde zu betonen, dass das Ein-China-Prinzip für Taiwan und Festlandchina kein bindendes Völkerrecht ist und die Grünen hier, ebenso wie die SPD, zu sehr der Pekinger Rhetorik auf den Leim gegangen sind. Den Hinweis darauf hätte man, wie die FDP, aus dem Programm streichen können, weil es eine leere Worthülse ist.
Gleichzeitig ist zu bemerken, dass sich die Grünen – ebenso wie die anderen Parteien – nicht durchringen, die Situation in Xinjiang als Völkermord zu bezeichnen. Das mag pragmatische Gründe haben, wäre völkerrechtlich aber legitim.
Fazit: Mehr als alle bisher vorgestellten Parteien haben die Grünen derzeit Chancen, an der kommenden Bundesregierung beteiligt zu sein. Fraglich ist zwar noch, ob sie die Kanzlerin stellen oder nur Juniorpartner sein werden. In beiden Fällen dürfte die deutsche Außenpolitik eine europäischere und stärker militarisierte Ausrichtung bekommen. Gut, dass es in der Volksrepublik demnächst sowieso keinen Absatzmarkt für Verbrennungsmotoren aus Deutschland mehr geben wird.
Auch ist bemerkenswert, wie sehr Baerbock als Wunschkandidatin ausländischer Medien präsentiert wird. Europa und die USA scheinen sich tatsächlich einen Wechsel nach 16 Jahren CDU an der Spitze zu wünschen.
Eigentlich würde es hier nächste Woche mit dem Wahlprogramm der CDU weitergehen. Leider hat die CDU ein solches Programm auch im Entwurf bisher nicht veröffentlicht, weshalb wir dieses Vorhaben für den Spätsommer aufheben müssen (geplante Veröffentlichung des Programm ist im Juli). Da die AfD keine demokratische Partei ist, wird sie als einzige im Bundestag vertretene Kraft hier keine weitere Beachtung finden.
Monatslese Juni: Spannendes zur Region Ostasien
An dieser Stelle sammele ich einmal pro Monat interessante Artikel, Podcasts oder andere Beiträge, die sich im weitesten Sinne mit Ostasien beschäftigen. Tipps immer gerne per Email an ausblickost [at] gmail . com.
Hinomaru mal anders: Warum befinden sich eigentlich noch so viele handbeschriebene japanische Flaggen auf Dachböden in den USA? Dieser Frage und der vielschichtigen Geschichte dahinter ist die aktuelle Ausgabe des hervorragenden Podcasts 99% Invisible nachgegangen. Ein wenig nerdig, aber durchaus aufschlussreich. Hier zu hören:
Hingelegt: Das Klischee über die chinesische Arbeitskultur ist derzeit vor allem durch die Arbeitsweise riesiger Firmen wie Alibaba geprägt. Deren Gründer Jack Ma hatte das sogenannte 9-9-6-System etabliert: die Angestellten sollen demnach von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends an sechs Tagen der Woche arbeiten.
Viele junge Chinesen entspannen sich dann doch lieber – und legen sich hin. Der Begriff tang ping drückt die Gefühle einer Generation aus, die keine Lust mehr hat, sich noch weiter anzustrengen. Warum nicht das Leben genießen anstatt sich zu Tode zu arbeiten? Einen Einblick in die Volksseele gibt Sixth Tone in diesem lesenswerten Artikel.
Zara, H&M und Uniqlo haben mysteriöse Konkurrenz: die chinesische Firma Shein mischt derzeit den Teil des Mode-Markts auf, der gerne mal als fast fashion bezeichnet wird. Die Taktik, günstiger als alle anderen zu sein, ist dabei nur ein Teil der Marktstrategie diese etwas mysteriösen Konzerns (meine Übersetzung):
Risikokapitalgeber scheinen über den Aufstieg des Unternehmens ebenso ratlos zu sein wie [die] Medien. "Dies ist Chinas geheimnisvollstes Milliardenunternehmen", sagte ein Investor. Viele in der Investmentwelt erinnerten sich daran, dass sie zu spät dran waren, um an den Finanzierungsrunden teilzunehmen. Obwohl Shein sich weigert, seine Investoren zu veröffentlichen, sind einige Branchenveteranen - JAFCO Asia und IDG Capital zusammen mit den Private-Equity-Titanen Sequoia und Tiger Global - alle bestätigte Geldgeber. Dennoch hat sich keiner von ihnen über das Unternehmen geäußert, da sie sich bei ihrer Investition zur Verschwiegenheit verpflichtet haben.
SupChina mit einem Artikel dazu.
Verschwörungsgläubige gibt es nicht nur in den USA oder Deutschland: Auch Südkorea hat mit der Verbreitung von fragwürdigen Inhalten im Internet zu kämpfen. Besonders anfällig scheinen dabei ältere Leute auf Youtube zu sein. Grace Moon hat dazu recherchiert und diesen spannenden Artikel geschrieben. Kleine Kostprobe (meine Übersetzung):
Anstelle von Massenmedien haben sich viele ältere Südkoreaner, wie Jeong, YouTube zugewandt. Die Position der Plattform als Vektor der rechtsextremen Ideologie, vor allem unter den älteren Generationen, begann, nachdem die konservative Präsidentin Park Geun-hye nach einer Reihe von Korruptionsskandalen 2016-2017 abgesetzt und inhaftiert wurde - Ereignisse, die die Verbindungen zwischen den konservativen Medien und dem langjährigen Personenkult um die Familie der Präsidentin kappten. Seitdem hat sich die nationale Politik weiter polarisiert und das Vertrauen in die Medien ist geschwunden. Viele Konservative haben die Mainstream-Narrative aufgegeben und sind auf alternative Online-Kanäle umgezogen, wo sich die Nostalgie für ein autokratisches, antikommunistisches Regime mit einem Gefühl politischer Entfremdung und konservativem Christentum vermischt hat, um eine fruchtbare Umgebung für Fehlinformationen zu schaffen, die von einer "Rote-unter-dem-Bett"-Paranoia [mit „Rote“ sind wohl Kommunisten gemeint, meine Anmerkung] bis zu Covid-19-Leugnung reichen.
Was sonst noch geschah:
Knapp 900 Japanerinnen auf einer „Uigurischen Terroristenliste“: Diese Woche wurde bekannt, dass die Stadtverwaltung von Shanghai anscheinend eine Liste führt, auf der sie sogenannte „uigurische Terroristen“ vermerkt. Unter den insgesamt 90.000 Namen (!!!) auf der Liste finden sich auch knapp 900 Japaner und über 600 Südkoreaner. Der Datensatz hat für Aufsehen in Japan gesorgt, lässt mich in seiner Bedeutung dann doch noch etwas ratlos zurück. Die Informationen sind dank einer australischen Cybersecurity-Firma ans Tageslicht gekommen, wie Asahi Shimbun berichtet.
China wird freundlicher…zumindest rhetorisch: Anscheinend hat Generalsekretär Xi Jinping langsam Wind davon bekommen, dass es für das weltweite Image Chinas wenig bringt, wenn die eigenen Diplomaten fremde Staaten beleidigen und verhöhnen. Deshalb scheint man die „Wolfskrieger“-Rhetorik nun ändern zu wollen. Problematisch dürfte dabei nur sein, dass sich die Substanz chienesischer Poltik im In- und Ausland nicht ändern wird. Foreign Policy hat schon Ende Mai die These aufstellen lassen, dass die aggressive Rhetorik Chinas bekannte Großmachtpläne vorzeitig begraben hat - und aufgezeigt, warum genau das noch ein Problem werden könnte. Hier der Artikel dazu.
Bidens China-Politik im Mittelpunkt: So oder so ähnlich dürften große Teile des diesjährigen G7-Treffens in Brüssel diese Woche aussehen. Neben Moskau ist vor allem Peking derzeit ein Dorn im Auge europäischer und amerikanischer Politikerinnen. Dabei geht es auch darum, ein gemeinsames Gegenprogram zur chinesischen Belt and Road Initiative zu starten. Außerdem wird Taiwan prominent erwähnt werden. Aus dem Entwurf der gemeinsamen Pressemitteilung (meine Übersetzung):
Wir unterstreichen die Bedeutung von Frieden und Stabilität in der Straße von Taiwan und befürworten eine friedliche Lösung der Probleme auf beiden Seiten der Straße.
Als kleiner Hinweis für die Grünen: Kein Wort an dieser Stelle zur sogenannten „Ein-China-Politik”
Und zum Schluss…
Ein Tweet aus der letzten Woche, bei dem einem immer noch noch das Lachen im Halse stecken bleibt. Falls jemand vergessen haben sollte, dass die Simpsons seinerzeit wirklich fantastisch waren.
Soweit war es das für diese Woche. Kommentare, Themenvorschläge oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bei Paywall-Problemen in verlinkten Artikeln stehe ich gerne mit Hilfe bereit. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!