2021/Woche 20: Nationale Lösungen gibt es nicht
Wie die Welt Taiwan alleine gelassen hat. Und: die Außenpolitik der SPD vor der Bundestagswahl.
Aktuell: Die Situation in Taiwan und die Grenzen nationaler Pandemiebekämpfung
Wir haben ja in den vergangenen Monaten immer mal wieder nach Taiwan geschaut, um zu lernen. Wie man eine Pandemie effektiv verhindert, wie Menschenleben effektiv schützt, ohne Freiheitsrechte übermäßig durch Vollüberwachung einzuschränken. Auch die Weise, wie man in Taiwan mit dem Tsunami an Fake News aus China während der Pandemie umgegangen ist, war beispielhaft.
Dem einen oder anderen dürfte aufgefallen sein, dass Taiwan derzeit wieder verstärkt in deutschen und anderen westlichen Medien auftaucht, unter anderem auch in der Talkshow von Markus Lanz vom vergangenen Dienstag. Diesmal vor allem, weil sich die Infektionszahlen auf der Insel in den letzten Wochen exponentiell vervielfacht haben. Trotz großer Vorsicht von staatlicher Seite gibt es nun Cluster, deren Entstehung von den Behörden kaum noch nachzuvollziehen ist.
Dafür scheint es eine Reihe von Gründen zu geben:
(Notwendige) Lücken im System: Während die Bevölkerung Taiwans sich beinahe frei bewegen konnte im vergangenen Jahr, galten für Einreisende strenge Quarantäne-Maßnahmen. So mussten alle Neuankömmlinge sich 14 Tage in ausgewiesene Hotelzimmer zurückziehen und wurden durch Bluetooth-Tracking überwacht, ob sie das Gebäude auch nicht verlassen haben. Zusätzlich wurden diese Personen täglich angerufen, um zu überprüfen, ob sie sich in der Nähe der überwachten Sim-Karte befinden. Dieses System hat aber Lücken, da besonders die Crews von Linienflügen sich nur wenige Tage isoliert vom Rest der Bevölkerung aufhalten müssen, um den Flugverkehr nicht vollständig unmöglich zu machen. Einer der Ursprünge der jetzigen Infektionswellen scheint eine Party in einem Hotel zu sein, in dem sich Pilotinnen und Kabinenbegleiter aufgehalten hatten.
Fehlender Impfstoff: Letzte Woche wurde von mir bereits angesprochen, dass BioNTech einen bereit stehenden Vertrag mit dem taiwanischen Staat über die Lieferung von Impfstoffen weiterhin nicht unterschreibt. Grund dafür ist ein bereits existierender Vertrag mit einer chinesischen Firma. BioNTech möchte sich öffentlich dazu nicht äußern.
Grenzen der nationalstaatlichen Lösung: Neben dem fehlenden Impfstoff macht sich nun auch bemerkbar, dass eine globale Pandemie im eigenen Land nur bedingt eingedämmt werden kann. Die Tatsache, dass Taipeh international keine Anerkennung findet, führte zu einer extrem professionellen Vorbereitung. Vor allem letztes Jahr konnte die Wachsamkeit taiwanischer Behörden unzähligen Menschen das Leben retten. Das wurde von der internationalen Gemeinschaft strukturell ignoriert, besonders in Foren wie der WHO. Das Land mit seinen über 23 Millionen Einwohnerinnen verzeichnete bis vor wenigen Wochen um die insgesamt 10 Todesfälle durch Covid-19. Inzwischen sind es insgesamt 166, was immer noch deutlich niedriger ist als in vergleichbaren Ländern Europas (Stand vom 04.06.2021).
Zur Hilfe kommen wollte nun ausgerechnet Deutschland, welches sich in den vergangenen Jahren eher durch seine wirtschaftliche Nähe zu Peking ausgezeichnet hatte und eine stringente europäische Politik bezüglich chinesischer Menschenrechtsverletzungen aktiv mitverhindert hat. So wollte die Bundesregierung nach Informationen von Reuters nun zwischen der deutschen BioNTech und Taiwan verhandeln, um so die Lieferung von Impfstoffen zu ermöglichen.
Hinter der aktiven Haltung von Deutschland steckt allerdings auch wirtschaftliches Kalkül. Taiwan ist Heimatland des weltweit wichtigsten Halbleiterherstellers TSMC. Da es derzeit aufgrund von knappen Ressourcen und anderen Engpässen während der Pandemie zu globalen Lieferproblemen gekommen ist, hatte Taipeh Berlin seine Unterstützung angeboten – im Gegenzug für die Hilfe bei Impfstoffen in der Zukunft.
Nun musste Taipeh allerdings feststellen, dass ein deutsches Versprechen offensichtlich wenig Bestandsgehalt hat. Radio Taiwan International zitiert den taiwanischen Quasi-Botschafter in Berlin so:
Die deutsche Regierung, insbesondere Wirtschaftsminister Peter Altmaier, habe enorme Anstrengungen unternommen, um als Brücke in den Verhandlungen zwischen Taiwan und BioNTech zu dienen, versicherte Thomas Prinz. Die deutsche Regierung hat jedoch keine Kontrolle über die Bedingungen eines potentiellen Vertrages, da nur die Parteien des potentiellen Vertrages ein Mitspracherecht haben, so Prinz.
An die Stelle der Bundesrepublik tritt nun Japans Regierung, die über eine Million Dosen Astra Zenica ans Nachbarland liefern wollen.
Es bleibt weiterhin festzuhalten, dass Europa eine Menge von Taiwan lernen muss. Sollte es in naher Zukunft erneut zu einem umfassenden Gesundheitsnotstand kommen, dürfte die Inseldemokratie in vielerlei Hinsicht ein Vorbild bleiben, vor allem in der Frühphase. Effektive Krisenkommunikation, Umsetzung von komplexen Erfassungssystemen und vor allem der Schutz von Menschenleben müssen dabei im Mittelpunkt stehen.
Länder wie Deutschland müssen sich aber zudem überlegen, wie sie eine bessere Einbindung Taiwans in die internationale Gemeinschaft ermöglichen können. Denn auch der beste Nationalstaat kann ohne internationale Kooperation eine solch umfassende Krise nicht alleine lösen.
Weiterführend:
Die Dienstagssendung von Markus Lanz ist tatsächlich vor allem in der ersten Hälfte empfehlenswert. Zu Gast ist unter anderem auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, der Taiwans Gesundheitssystem nicht nur lobt, sondern es tatsächlich auch detailliert vor Ort kennen gelernt hat.
Wahlmonitor (3/5): SPD – Der Dritte Weg?
Wir begeben uns nach den beiden Ausflügen an die Ränder des demokratischen Spektrums nun direkt in die Mitte und zu der Partei, die seit 2005 fast durchgehend das Außenministerium geleitet hat.
In der SPD dürften sich also gebündelte Kompetenzen befinden, gerade auch in Bezug auf Ostasien. Bevor wir zum aktuellen Wahlprogramm der Genossinnen kommen, wollen wir erst einmal auf zwei Entwicklungen der letzten Jahre blicken.
Leichter Bruch mit Merkels Außenpolitik: Während die Bundesrepublik sich in den letzten Jahren vor allem um die engen wirtschaftlichen Beziehungen mit Peking gekümmert hat, ist von der Regierungspartei SPD immer wieder eine andere Note gesetzt worden. Außenminister Heiko Maas traf sich so etwa 2019 mit dem Hong Konger Demokratieaktivisten Joshua Wong, was in Festlandchina für mehr als nur ein wenig Verstimmung sorgte.
Standpunkte zu Covid-19: Nils Schmid, der außenpolitische Sprecher der SPD im Bundestag, forderte in einem Beitrag für die Parteizeitung Vorwärts aus dem Jahr 2020 zudem, „mutiger gegenüber China“ aufzutreten. Von einem dezidiert westlichen Standpunkt aus müsse man China als Gegner im globalen politischen Wettbewerb wahrnehmen. Ein Positionspapier der Partei, ebenfalls aus dem vergangenen Jahr, ergänzt diese Haltung. Zudem wird hier etwa auch die Rolle Taiwans während der Covid-19-Pandemie hervorgehoben.
Wir unterstützen die Politik der Bundesregierung gegenüber Taiwan. Zu einseitigen Änderungen des Status quo durch die Volksrepublik China oder einer gewaltsamen Auseinandersetzung in der Taiwan-Straße darf es nicht kommen. Taiwan hat sich seit dem Ende des Ausnahmezustandes 1987 zu einer lebendigen Demokratie gewandelt und ist Deutschlands fünftwichtigster Handelspartner in Asien. Im Rahmen der Ein-China-Politik setzen wir Sozialdemokrat_innen uns für eine stärkere Einbindung Taiwans in internationale Organisationen ein und sind bestrebt, die wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen zu Taiwan weiter zu fördern.
Die Gratwanderung führt manchmal aber auch dazu, dass man unhinterfragt das Vokabular der chinesischen Regierung übernimmt. So etwa in Bezug auf Taiwan im Positionspapier. Es wird an dieser Stelle nicht erwähnt, dass keine Einigkeit auf beiden Seiten der Taiwan-Straße darüber gibt, was das Prinzip „Ein China“ überhaupt bedeutet. Außerdem handelt es sich bei dem Ein-China-Prinzip nicht um geltendes Völkerrecht, das es unbedingt zu wahren gilt. Wenn man solche Begriffe in einem Positionspapier verwendet, sollte man ihre Bedeutung unbedingt in Kontext setzen.
Außenpolitik wird bei der SPD, stärker als bei den bisher hier vorgestellten Parteien, als dezidiert europäisch wahrgenommen. So hat man auch die wachsenden Investitionsversuche Pekings auf eruopäischem Boden kritisch ins Augen gefasst:
Vereinbarungen einzelner Mitgliedstaaten mit China im Rahmen der Belt-and-Road-Initiative (BRI) sowie die »17+1- Initiative« schwächen den Konsens innerhalb der EU über die Beziehungen zu China und erschweren koordinierte und effektive Maßnahmen. Chinas jüngste Inszenierungen gegenüber einer Vielzahl eu- ropäischer Staaten, sich als einziger handlungsfähiger Akteur in der COVID-19 Krise darzustellen, un- terstreichen, wie dringlich ein Mehr an europäischer Zusammenarbeit und Geschlossenheit notwen- dig ist. Im Kreis der EU-Mitgliedsstaaten muss insbesondere Deutschland aktive Schritte unternehmen, um Einigkeit innerhalb der EU zu erzielen. Die im März 2019 beschlossene Einführung eines europäischen Screenings für Auslandsinvestitionen zur Stärkung des gemeinsamen Sicherheitsniveaus im Binnenmarkt und einer durchsetzungsfähigeren Industriepolitik gegenüber Drittländern wie China ist hier beispielhaft.
Im Gegensatz zur FDP, die sich eindeutig kritisch mit China auseinandersetzt und vor allem die Verbindungen zu den demokratischen Gesellschaften in Hong Kong und Taiwan betont, wirft man bei der SPD jedoch einen anscheinend konstruktiveren Blick auf die Beziehungen nach Fernost. Zwar gebe es klare Konfliktpunkte, besonders in Bezug auf die Situationen in Xinjiang und Hong Kong, jedoch müsse mit Blick auf den Klimawandel auch eine fortdauernde Zusammenarbeit in kritischen Themenfeldern möglich bleiben. In diesem Sinne äußerte sich auch die SPD-Politikerin Dagmar Schmidt, Vorsitzende der deutsch-chinesischen Parlamentariergruppe, in einem Gespräch mit dem chinesischen Botschafter in Berlin, Wu Ken.
So scheinen die Sozialdemokratinnen einen dritten Weg zwischen Anbiederung und Ablehnung finden zu wollen, so wie man ihn etwa auch bei pragmatischen Linken-Politikern wie Stefan Liebich (siehe letzte Woche) verorten kann.
Die zweischneidige Haltung der SPD kulminiert nun folgendermaßen kondensiert im sogenannten „Zukunftsprogramm“ vor der Bundestagswahl 2021:
Die wachsende Bedeutung Chinas in der Welt hat zur Folge, dass eine globale Antwort auf die öko-nomischen, ökologischen, sozialen und politischen Herausforderungen unserer Zeit kaum ohne Peking vorstellbar ist. Interessens- und Wertekonflikte mit China nehmen zu. Europa muss den Dia-og mit China über Kooperation und Wettbewerb geschlossen, konstruktiv und kritisch führen. Die gravierenden Menschenrechtsverletzungen gegenüber Minderheiten, insbesondere uigurischen Muslimen, verurteilen wir. Für Honkong muss das international verbriefte Prinzip „Ein Land – zwei Systeme“ gewahrt bleiben. Wir betrachten mit großer Sorge den wachsenden Druck auf Taiwan.
Fazit: Weniger dogmatisch als die FDP und pragmatischer als die Linke erscheint also die SPD-Haltung zu China. Im Wahlprogramm finden sich zudem Erwähnungen zum Indo-Pazifik, was die Partei in Einklang mit der sich entwickelnden westlichen Geopolitik bezüglich Asien bringt.
Ob die SPD an der nächsten Bundesregierung beteiligt sein wird, ist derzeit nicht abzuschätzen. Eine Juniopartnerschaft in einer Ampel- oder grün-rot-roten Koalition ist rechnerisch jedoch weiterhin realistisch. Auch dann würden die Sozialdemokraten die deutsche Außenpolitik weiter prägen. Ob die Partei dann eine durchgehend andere Chinapolitik wagen würde als in einer Koalition mit der Union?
Heute vor 32 Jahren: Erinnerung an Tiananmen
In Festlandchina ist die Erinnerung an das Tiananmen-Massaker der Volksbefreiungsarmee seit Jahren verboten, jegliche damit verbundene Suchbegriffe werden im Internet zensiert. Während der Unruhen um den 4. Juni 1989 kamen hunderte studentische Aktivistinnen ums Leben, genaue Zahlen existieren bis heute nicht. Auch in Hong Kong, wo viele Betroffene seit Jahrzehnten im Exil gelebt haben, wird dieses Jahr zum zweiten Mal in Folge eine Mahnwache verboten, angeblich wegen der Covid-19-Situation. Aufrufe zur Versammlung bestehen trotzdem im Internet.
Was sonst noch geschah:
Blinken ballert im Pazifik: bei einem Treffen von kleineren Pazifikstaaten im amerikanischen Hawaii äußerte sich der US-Außenminister kritisch gegenüber Chinas Einfluss in der Region. Peking hat in den letzten Jahren versucht, vor allem die hegemoniale Stellung Australiens und der USA im Südpazifik geopolitisch zu untergraben. Der Guardian hat mehr.
Japan und die Diskussion um geistige Gesundheit: Die Profi-Tennisspielerin Osaka Naomi hat durch ihren Rückzug von einem Profi-Turnier nicht nur in der Sportwelt Diskussionen über psychische Gesundheit ausgelöst. Japan diskutiert dieser Tage ebenfalls intensiv darüber, so auch die Kolumne Vox Populi der Asahi Shimbun.
Drei-Kind-Politik in China: die Meldung, dass Festlandchina nun Familien erlaubt, insgesamt drei Kinder zu bekommen, dürfte für einige Überraschungen gesorgt haben. Erst 2015 wurde die Ein-Kind-Politik beendet, die zwar das unkontrollierte Wachstum der chinesischen Bevölkerung eindämmen konnte, aber gleichzeitig für unzählige illegale Abtreibungen vor allem von weiblichen Föten sorgte. Expertinnen bezweifeln, dass die Geburtenrate in China dauerhaft wieder über 1,5 Kindern pro Frau liegen wird. Darüber sprechen wir sicherlich in den nächsten Wochen nochmal. Reuters hat eine Zusammenfassung.
Belt and Road im Kontext: Interview mit Jonathan Hillman im CLM. Hillman hat gerade ein Buch über die neue Seidenstraße veröffentlicht und sortiert den tatsächlichen Umfang realistisch ein. Unter anderem hat er sich auch in den direkten chinesischen Nachbarländern und BRI-Partnern umgehört.
Und zum Schluss…
Soweit war es das für diese Woche. Kommentare, Themenvorschläge oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bei Paywall-Problemen in verlinkten Artikeln stehe ich gerne mit Hilfe bereit. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!