2021/Woche 16: Herr Ghosns Reise ins Zauberland
In welcher wir auf einen alten Bekannten treffen. Außerdem besuchen wir den (angeblich) gefährlichsten Ort der Welt.
Lesetipp:
Gestern ist der erste Teil eines zweiteiligen Artikels bei Polis180 erschienen, den ich zusammen mit Paul Guthmann verfasst habe. Darin erklären wir die wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Zusammenhänge der Affäre Carlos Ghosn, die Japan über Monate in Atem gehalten hat. An dieser Stelle werde ich heute und am nächsten Freitag verkürzte Übersichten des Artikels veröffentlichen. Auch sei auf eine Ausgabe dieses Newsletters zu diesem Thema aus dem vergangenen Jahr hingewiesen.
Der Fall Carlos Ghosn, Teil 1/2: Wirtschaftliche Überlegungen und Intrigen
Als der CEO von Renault, Nissan und Mitsubishi, der französische und libanesische Staatsbürger Carlos Ghosn, 2018 von den japanischen Ermittlungsbehörden zum Verhör festgenommen wurde und anschließend in Untersuchungshaft kam, sorgte das für ein wahres Erdbeben in der internationalen Business Class. Ghosn, der Kopf hinter der seit fast 20 Jahren bestehenden Geschäftsallianz der Autohersteller Renault und Nissan, zu der sich später auch Mitsubishi gesellte, war damals eine der schillerndsten Figuren in Japans Wirtschaftwelt. Da die meisten japanischen Firmen, hermetisch abgeriegelt vom Weltmarkt, von einheimischen CEOs geführt werden, wirkte Ghosn – in Frankreich auch liebevoll le Cost Killer genannt – wie ein äußerst exotischer Charakter. Von ihm verfasste Sachbücher dominierten die Bestsellerlisten in Japan, er wurde für viele Nachwuchstalente zum Vorbild und Idol.
Im Gegensatz zu diesem öffentlichen Bild rumorte es jedoch hinter den Kulissen. Sowohl die alte Garde in der Nissan-Führung als auch die japanische Regierung sahen die Geschäftsverbindungen mit Renault immer kritischer. Renault, ein teilweise staatliches Traditionsunternehmen (Frankreich hält wichtige Anteile an Renault), war zu Beginn der Allianz Ende der 1990er zwar deutlich solventer als der angeschlagene Riese Nissan, ist jedoch in absoluten Absatzzahlen deutlich kleiner als der japanische Partner. Als sich die Finanzlage bei Nissan im Laufe der Zeit zwar deutlich erholte, der damalige französische Wirtschaftsminister, ein gewisser Emmanuel Macron, aber gleichzeitig den Einfluss des französischen Staates bei Renault (und damit indirekt bei Nissan) erhöhen wollte, scheinen in Tokyo einige Drähte durchgebrannt zu sein.
Der „Rauswurf“ von Ghosn nach Beginn seiner U-Haft 2018 gab der japanischen Seite anscheinend eine stärkere Verhandlungsmacht. Das Machtzentrum im Bündnis zwischen Renault und Nissan, zu dem sich einige Zeit zuvor auch Mitsubishi gesellt hatte, verlagerte sich durch gegenseitige Aktienanteile deutlich in Richtung Japan.
Klare Anreize für Japans Unternehmen und Regierung, Ghosn loszuwerden, waren also vorhanden. Er war das Gesicht der Partnerschaft und widersprach in seinem gesamten Wesen dem Idealbild ostasiatischer Geschäftsmänner. Umso unangenehmer wurde es für den japanischen Staat, als Carlos Ghosn unbemerkt das Land in einem Kasten für Musik-Equipment per Privatjet verlassen konnte. Als er dann in seiner zweiten Heimat Libanon auftauchte und eine der brisantesten Pressekonferenzen der jüngeren Geschichte aufführte, war das PR-Debakel für Tokyo in trockenen Tüchern. Sein Vorwurf: bei seiner Festnahme handelte es sich um eine groß angelegte Verschwörung von Japans Regierung sowie Nissan und Mitsubishi, um ihn zu beseitigen. Die Behandlung während seiner Untersuchungshaft hätte zudem seine grundlegenden Menschenrechte verletzt. Es handele sich bei dem Vorgehen der japanischen Justiz um sogenannte „Geiseljustiz“, die nur darauf aus sei, ihn zu einem umfassenden Geständnis zu bewegen.
In der kommenden Woche werden hier passend zum zweiten Teil unseres Artikels bei Polis 180 die rechtlichen Fragen, vor allem mit Bezug auf Ghosns Vorwürfe, auch an dieser Stelle näher erläutert.
Weiterführend seien die folgenden Artikel in der Businessweek über seine Verhaftung und seine Flucht empfohlen. Auch optisch sehr ansprechend gestaltet.
Zu Vertiefung: Das Ein-China-Prinzip?
Der inhaltlich zumeist verlässliche Economist ist eine der nützlichsten Nachrichtenquellen für internationale Politik. Oft findet man dort tiefgründige Analysen zu Themen aus Weltregionen, die kein anderes Medium mit derselben Reichweite so ausführlich behandeln würde.
Manchmal erlaubt man sich beim Economist aber auch einen Griff in die Toilette. So auch letzte Woche, als man eine eher kontroverse Cover-Story veröffentlichte:
Dass Taiwan nicht der gefährlichste Ort der Welt ist, dürfte eigentlich auf der Hand liegen: das zeigt schon die Professionalität, mit der die Corona-Pandemie dort praktisch vollständig eingedämmt wurde.
Was dagegen gefährlich erscheint, sind die Provokationen aus Peking, da man dort Taiwan ja für eine abtrünnige Provinz hält. Gerne verweist die politische Führung dabei auf das sogenannte „Ein-China-Politik“, wonach das chinesische Staatsgebiet auch Taiwan umfasse.
Aber was genau ist eigentlich die „Ein-China-Politik“, und was ist sie explizit auch nicht?
Die Idee eines einzigen Chinas geht auf die Phase nach dem Chinesischen Bürgerkrieg zurück, als die Kommunisten um Mao Zedong die Nationalisten um Chiang Kai-shek auf dem Festland besiegten und letztere nach Taiwan flohen. Bis in die 1970er hatten nur sehr wenige europäische Staaten die neue Führung in Peking als legitime Regierung Chinas anerkannt. Auch die USA hielten bis 1973 scheinbar eisern zu Chiang und seinem Regime, vor allem auch vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. Sollte Taiwan in die Hände der Kommunisten fallen, so die Logik, wäre der Rest Ostasiens verloren für die freie Welt. Die Militärs in Taiwan sorgten während der Phase der Militärdiktatur dafür, dass jegliche diplomatische Beziehungen zu Staaten abgebrochen wurden, die die Volksrepublik anerkennen wollten.
Nachdem die kommunistische Volksrepublik China die nur noch auf dem Papier (und auf Taiwan) existierende Republik China innerhalb der Organe der UN ablöste, verlor Taiwan damit schrittweise alle relevanten offiziellen diplomatischen Beziehungen zum Rest der Welt.
(Das ist zugegeben alles sehr vereinfacht, denn bis heute hat Taiwan noch diplomatische Partnerländer, die Peking nicht anerkennen und somit keine Beziehungen zu Festlandchina haben, sowie tiefgehende inoffizielle Bündnisse mit vielen Staaten weltweit.)
Nach der Demokratisierung Taiwans ab Ende der 1980er schlugen nachfolgende Regierungen dort einen pragmatischeren Kurs ein. So setzte man stärker auf subnationale Beziehungen. Taiwan betreibt in vielen Ländern der Welt (auch in den USA oder Deutschland) Institute, die praktisch alle Aufgaben von Botschaften und Konsulaten übernehmen.
1992 kam es zu einem Abkommen zwischen Peking und Taipeh, wonach es aus Sicht beider Seiten nur „ein China“ gebe. Das Abkommen ermöglichte für einige Zeit relativ problemlose Beziehungen zwischen Taiwan und dem Festland, vor allem der persönliche Austausch und Wirtschaftsbeziehungen standen im Mittelpunkt. Die Beteiligten akzeptierten den Konsens von 1992 somit als „Status quo“.
Das Problem dabei: man hat unterschiedliche Vorstellungen, was genau dieses eine China eigentlich ist. Für die Volksrepublik bedeutet das Prinzip „Ein China“, dass Taiwan Teil der Volksrepublik ist und jeder Versuch, formell unabhängig zu werden, einen Grund zum Krieg darstellen würde. Interessant ist das natürlich, weil Taiwan faktisch seit 1949 nie Teil des kommunistischen Chinas war.
In Taiwan haben die inzwischen regierende Demokratische Fortschrittspartei (DPP), traditionell eher pro-Unabhängigkeit einzuordnen, und die oppositionelle Kuomintang (KMT) unterschiedliche Ansichten zum Konsens von 1992. Seit den Ereignissen der letzten Monate, der wachsenden militärischen Provokationen Chinas während der Conora-Pandemie und der Präsidentschaftswahl vom Januar 2020 hat sich aber auch die eher für eine Wiedervereinigung kämpfende KMT weiter von der verbalen Unterstützung der Übereinkunft abgewendet.
Auch die USA sind in der Gesamtrechnung zu betrachten, da das Washingtoner Verständnis vom Status quo eine indirekte Militärunterstützung für Taipeh beinhaltet.
Einen wirklich einheitlichen Status quo scheint es also nicht zu geben, wie unter anderem auch Jessica Drun in der Indo-Pacific Perspective des US-Verteidigungsministeriums erläuterte. Ihr Fazit bezüglich der Sicht in Taiwan (meine Übersetzung):
Beide großen Parteien in Taiwan werden weiterhin die Souveränität der Republik China [i.e. Taiwan] unterschiedlich stark betonen - ein Trend, der sich in Zukunft wahrscheinlich noch verstärken wird, da die Identitätspolitik in Taiwan stark auf eine einzige taiwanische Identität, getrennt von China, ausgerichtet ist. Es ist schwer, Anzeichen für eine Annäherung an die chinesische Interpretation des Status quo zu erkennen, so dass eine zukünftige Annäherung der Ansichten über den Status quo immer unwahrscheinlicher wird - und damit auch eine gemeinsame Basis für den Diskurs zwischen beiden Seiten der Taiwanstraße. Dies ist ein übersehener, aber grundlegend wichtiger Aspekt der Beziehungen zwischen beiden Seiten […].
Der Fehler des Economist mit seinem alarmistischen Cover liegt dann auch genau hier: Ein fehlender gemeinsamer Status Quo ist zwar ein Problem, bedeutet nicht automatisch Krieg, wie die letzten Jahrzehnte schon gezeigt haben. Viele Beobachterinnen aus dem Westen, besonders in den USA, scheinen der Meinung zu sein, dass ein Krieg um Taiwan unumgänglich ist. Die Rechnung dabei: Peking wolle das Taiwan-Problem bis 2049, passend zum hundertsten Jahrestag der Volksrepublik China, gelöst haben. Damit der Westen den militärischen Angriff bis dahin vergessen könnte, müsst dieser noch vor 2030 erfolgen.
(Stark verkürzte Argumentation, im Detail lässt sich das hier auch nochmal nachlesen).
Heißt das also, es wird keinen militärischen Konflikt geben? Dafür gibt es natürlich keine Garantie, vor allem auch, weil die taiwanische Bevölkerung drauf und dran ist, die eigene chinesische Identität zu verlieren und sich fast nur noch als taiwanisch betrachtet. Auf der anderen Seite könnte China aber auch zu dem Schluss kommen, dass ein Krieg mit Taiwan (und damit auch den USA) ein viel zu hoher Preis sein könnte.
Update der Quellenarbeit: Dank einiger Rückmeldungen und weiterer Recherchen konnte meine Übersicht über elementare Quellen zur Region Ostasien ergänzt werden. Hier findet sich die aktuelle Übersicht, thematisch nach Ländern geordnet. Bei weiteren Ideen und Hinweisen bitte gerne eine E-Mail an mich senden.
Was sonst noch geschah…
EU-China-Abkommen liegt offiziell auf Eis: als die EU und die Volksrepublik zum Jahreswechsel ein umfangreiches Investitionsabkommen angekündigt hatten, galt das vor allem als Erfolg der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Dieser Erfolg für Berlin ist nun auch wieder Geschichte. Es fehlt die Zustimmung in der Kommission, in mehreren EU-Hauptstädten und natürlich auch im Europaparlament.
Taiwan Wirtschaft ist gewachsen, und das trotz der Pandemie: knapp 8,2 im ersten Quartal 2021. Und das ohne jeden Lockdown und ohne Corona-App. Davon könnte man sich vielleicht in Deutschland eine Scheibe abschneiden? Katharin Tai vom Podcast Fernostwärts hat übrigens für die Zeit vor ein paar Wochen ein interessantes Profil über Taiwans Krisenmanagement geschrieben, unbedingt lesenswert.
Trostfrauen-Akademiker-Diskussion: die komplette aktuelle Ausgabe des Magazins Asia-Pacific-Journal ist der wachsenden Diskussion um die Arbeit des Harvard-Professors und Japan-Experten Mark Ramseyer gewidmet. Dieser hatte mit einem Paper über die sogenannten Trostfrauen vor einigen Monaten für Aufmerksamkeit gesorgt. Darin hatte er behauptet, es habe sich bei den Sexsklavinnen aus Korea und China eigentlich um freiwillige Vertragsarbeiterinnen gehandelt. Das Magazin nimmt nun Ramseyers Untersuchungen zu den Burakumin, den historisch “Aussätzigen” der japanischen Gesellschaft, aufs Korn und weist auf Inkonsistenzen hin.
Außenwahrnehmung der deutschen Bundespolitik vor der Wahl: In einem der kommenden Newsletter wird es auch um die außenpolitischen Vorstellungen der deutschen Parteien mit Sicht auf Ostasien und China gehen. Das Handelsblatt hat schon einmal Perspektiven aus anderen Ländern auf die Bundesrepublik zusammengetragen. Unter anderem geht es auch um die eher chinakritische Haltung der Grünen, die inzwischen in den meisten Umfragen vorneliegen.
Neuseelands Regierung arbeitet anscheinend gerade eine eigene China-Politik unabhängig von anderen demokratischen Staaten wie den USA und Australien heraus. Deutlich freundlicher, von einem Völkermord in Xinjiang möchte das Parlament in Wellington daher bewusst auch nicht sprechen. Die Vermutung natürlich: es könnten wirtschaftliche Überlegungen dahinterstecken. Der Guardian mit mehr Kontext.
Und zum Schluss…
Soweit war es das für diese Woche. Kommentare, Themenvorschläge oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bei Paywall-Problemen in verlinkten Artikeln stehe ich gerne mit Hilfe bereit. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!