2021/Woche 8: Von Kriegen im Himalaya und vom Wandel in Südkorea
Dieses Mal mit einer Reise ins Hochgebirge und einem Blick nach Seoul.
China und Indien – Tik Tok, Ladakh und ein beinahe unbeachteter Konflikt
Seit Jahrzehnten schwelt ein kaum beachteter Konflikt zwischen den zwei größten Staaten Asiens. Indien und China beanspruchen beide gewisse Gebiete im Hochgebirge des Himalaya, besonders im Gebiet Ladakh. Bereits 1962 war an diesem geopolitischen Streitpunkt ein Krieg entbrannt, wobei die Ursprünge auf die Grenzziehung in der britischen Kolonialzeit des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Im Sino-Indischen Krieg kam es vor knapp 60 Jahren vor allem zu einer Entladung von anderen Konflikten, die die Region bewegt hatten. Indien hatte zu dieser Zeit etwa dem tibetischen Dalai Lama ein Exil geboten, nachdem chinesische Truppen das Hochland Tibets eingenommen hatten. Die bewaffneten Auseinandersetzungen fanden dann vor allem im Hochgebirge im Galwan-Tal statt, einem weitgehend lebensfeindlichem kargen Gebirge.
Interessante Fußnote: Indien erhielt 1962 zu Beginn vor allem von den USA nicht-militärische Hilfe. Da es aber bereits zum Bruch zwischen Peking und Moskau gekommen war, unterstützte schließlich auch die Sowjetunionweit Indien mit allen Mitteln. China stand in der Wahrnehmung der Weltpolitik als Aggressor da. Zwar gewann man den Krieg militärisch; diplomatisch hatte sich die noch junge Volksrepublik durch den Konflikt aber weiter isoliert.
Nun ist der Konflikt, nie abschließend geklärt und immer wieder aufflammend, auf die weltpolitische Bühne zurückgekehrt. So kam es letztes Jahr zu mehreren Schusswechseln. Mindestens 20 Soldaten auf indischer Seite starben dabei. Neu Delhi war dabei relativ transparent und der Konflikt wurde in Indiens freier Presse und den sozialen Medien ausführlich diskutiert. Eine stark anti-chinesische Grundhaltung bestimmte so auch Indiens Innen- und Außenpolitik im Jahr der Pandemie.
Peking dagegen verschwieg die Zwischenfälle, in den Staatsmedien wurde nicht darüber berichtet.
Das hat sich inzwischen geändert. Letzte Woche brach die Regierung das offizielle Schweigen und veröffentlichte in einem sogenannten media blitz Bildmaterial, welches die indischen Truppen als Aggressor darstellen soll. Laut der chinesischen Global Times sind vier Soldaten durch indische Angriffe ums Leben gekommen. Offiziell behandelt wurden diese Ereignisse erst, nachdem vor wenigen Tagen ein Waffenstillstand und militärischer Rückzug beideseitig vereinbart worden war. Der Vorwurf aus den Videos aber bleibt: Indien habe bewusst ausgehandelte Grenzen übertreten.
Die stark patriotisch aufgeladenen Reaktionen auf Weibo und anderen chinesischen sozialen Netzwerken wurden dadurch verstärkt, dass zum ersten Mal auch über die vier letztes Jahr gestorbenen Soldaten von staatlicher Seite gesprochen wurde.
Das chinesische Außenministerium ließ unter anderem dies am 19. Februar verlauten (meine Übersetzung und Hervorhebung):
Die Offiziere und Soldaten, über die dieses Mal öffentlich berichtet wurde, sind gestählte Soldaten, die von Xi Jinpings Gedanken zum Sozialismus mit chinesischen Merkmalen für eine neue Ära und Xi Jinpings Gedanken zur Stärkung des Militärs genährt wurden. Sie sind herausragende Vertreter der revolutionären Soldaten in der neuen Ära.
Aufmerksame Beobachter erkennen in der chinesischen Position klare Zeichen: Wolf Warrior Diplomacy (der Bezug auf den “Alpharüden” Xi ist hier wichtig), die klaren Slogans der gerade anbrechenden Xi-Ära (Sozialismus mit chinesischen Charakteristika) und der Verweis auf die Relevanz einer starken, „revolutionären“ Armee. Praktisch aus dem Propaganda-Textbuch.
Randnotiz #1: Die chinesische Führung ist sich natürlich bewusst, dass solche Statements und das Aufwiegeln der eigenen Bevölkerung mit hohen Kosten verbunden sind. Denn wer stark redet, muss irgendwann auch stark handeln. Wie könnte man denn der patriotischen Bevölkerung erklären, dass man sich militärisch zurückzieht anstatt Krieg gegen das fiese Ausland (USA, Indien, Japan, Taiwan) zu führen?
Randnotiz #2: Trotz aller Hoffnung, dass die Great Firewall doch durchlässig sein könnte (siehe Clubhouse), ist es dann doch erstaunlich, dass man durch eine „Nachrichtensperre“ in den Staatsmedien die öffentliche Stimmung bezüglich Indien in Festlandchina um praktisch ein halbes Jahr verzögern konnte.
Ist der Grenzkonflikt damit erledigt? Wohl kaum, da Indien jetzt am Zug ist und beweisen müsste, dass es nicht zu unerlaubten Grenzübertritten gekommen ist. So sind auch Tik Tok und hunderte anderer chinesischer Apps in Indien seit letzten Sommer gesperrt, eine Änderung ist derzeit nicht vorgesehen. Könnte China dagegen wirtschaftliche Maßnahmen ergreifen, die Indien stark schaden würden?
Gleichzeitig sind sich die beiden regionalen Großmächte näher denn je: so ist die Volksrepublik China letztes Jahr trotz des beinahe bewaffneten Konflikts der größte Handelspartner Indiens gewesen. Beide Seiten scheinen die patriotischen Gefühle und den Hass auf das Nachbarland in der eigenen Bevölkerung derzeit ganz gut nutzen zu können. In Neu Delhi muss sich die Regierung von Hindu-Nationalist Narendra Modi noch von den ausufernden Bauernprotesten der vergangenen Woche erholen. In Peking nutzt man nationalchauvinistische Gefühle gerne, um von Problemen in der Innenpolitik abzulenken.
Das Thema ist äußerst komplex und wurde hier nur angerissen. Wer sich darin vertiefen möchte, findet bei Al Jazeera und bei der New York Times historische Überblicke.
Blick nach Korea: Nicht Konfuzius, sondern Fortschritt?
Zwei Punkte bezüglich Südkorea sind diese Woche aufgefallen.
#1: Das Vertrauen in die Politik ist geringer als in weiten Teilen Europas
Weitere Studien belegen eine hier öfters geäußerte These: kulturelle Erklärungsversuche bezüglich Coronvirus-Bekämpfung sind kurzsichtig. Es stimmt einfach nicht, dass es sich bei Südkorea oder Taiwan um konfuzianisch geprägte obrigkeitsgläubige Staaten handelt und dass man deshalb das Virus so gut kontrollieren konnte. Das Vertrauen innerhalb der Bevölkerung in die Politik ist hier niederiger als in anderen entwickelten Ländern, wie diese OECD-Studie von 2018 belegt.
Tatsächlich waren die konservativen Medien laut einem Bericht von Blue Roof Politics schon im Laufe des vergangenen Jahres äußerst impfkritisch und haben auch sonst die Corona-Politik der Mitte-Links-Regierung von Präsident Moon Jae-In madig gemacht.
Südkorea fällt durch seine stark polarisierte Politik-Landschaft auf (ebenso wie Taiwan). Man stelle sich das ein wenig so vor wie in den USA, wo Demokraten und Republikaner sich in einer Art Bürgerkrieg wähnen.
Die Impfsituation gestaltet sich dem Bericht zufolge daher auch schwierig (meine Übersetzung):
Kim Jong-in, Vorsitzender der konservativen People Power Party, bemerkte, dass die Regierung plane, im März mit der Impfung mit dem AstraZeneca-Vakzin zu beginnen, und behauptete: "Die Regierung und die Regierungspartei planen, den unsicheren Impfstoff vor den [Bürgermeister-]Wahlen in Seoul und Busan zu injizieren, was inakzeptabel ist." Es überrascht nicht, dass Südkoreas Konservative eine größere Abneigung zeigen, sich gegen COVID-19 impfen zu lassen, was die Bemühungen, eine gesellschaftsweite Herdenimmunität zu erreichen, behindert.
Also nach einer einheitlichen Linie und einem durchgehenden Vertrauen in die Obrigkeit sieht mir das nicht aus. Inzwischen machen auch einige Ärzteverbände in Südkorea Stimmung gegen die diese Woche gestartete Impfkampagne.
Impfgegner finden sich auch in Ostasien. Interessant, dass man in den dortigen Demokratien bezüglich Pandemiebekämpfung bisher so viel erfolgreicher war als in Europa. Die größtenteils wohlüberlegte Corona-Politik der Regierung hat nicht mehr vorhandenes Vertrauen in der Bevölkerung wiederhergestellt.
#2 Die progressive Jugend
Trotz dieser Widrigkeiten sieht die Zukunft für die Demokratische Partei von Moon Umfragen zufolge eher rosig aus. Denn die jungen Südkoreanerinnen sind progressiver als ihre Elterngeneration. Blue Roof fasst die Erkenntnisse des gerade erschienen Buchs The Overtaking Age zusammen. Für das Werk haben die Autorinnen vor allem auf Youtube gewildert und Abonnenten bestimmter ideologisch linker Kanäle befragt. Die Ergebnisse wurden dann mit der gesamten jungen Bevölkerung verglichen:
junge Wähler aller Ideologien sind überwiegend der Überzeugung, dass eine sozialdemokratische Wirtschaft das richtige Zukunftsmodell darstellt
die meisten Unter-30-Jährigen, sowohl Linke als auch in der politischen Gesamtheit, halten Einkommensungleichheit für das wichtigste soziale Problem
Bezüglich des Umgangs mit Nordkorea unterstützen die meisten Antwortenden eine vorsichtige Annäherungspolitik mit Pyongyang, wobei eine militärische Vorbereitung für den Ernstfall von den meisten für wichtig erachtet wird
die Mehrheit möchte eine fortdauernde Allianz mit Washington. China und der Aufstieg einer sinozentrischen Weltordnung wird von den meisten jungen Südkoreanerinnen abgelehnt
Kommentar von Blue Roof Politics bezüglich China (meine Übersetzung):
Bemerkenswert ist, dass nur wenige junge Wähler die Option "Langfristig sollte sich Südkorea der chinesisch geprägten Weltordnung anschließen" gewählt haben: 3,4 % der Jungwähler allgemein und nur 0,1 % der liberalen Youtube-Abonnenten. Die Autoren merken an: "Dieses Ergebnis zeigt deutlich, wie wenig Südkoreas konservative Rechte ihren Gegner kennt und wie weit entfernt sie den Strohmann zum Angriff aufstellt. Koreas Konservative sind felsenfest davon überzeugt, dass die Demokratische Partei pro-chinesisch ist, und die Anhänger der Demokratischen Partei sind ebenfalls pro-chinesisch. Aber die junge Generation Südkoreas zeigt kaum eine pro-chinesische Tendenz, und die jungen liberalen Wähler noch weniger."
Was sonst noch geschah:
Olympia-Update Tokyo 2021: Die Spiele sollen weiterhin stattfinden. Eine erste Präfektur, Shimane, will sich allerdings nicht am traditionellen Fackellauf beteiligen. Gleichzeitig steht die Frage im Raum, ob die gerade begonnene Corona-Impfkampagne noch rechtzeitig bis zum Sommer durchgeführt werden kann.
Schürfen in Bangkok: die thailändische Tourismusbranche scheint es auf japanische Urlauber abgesehen zu haben, die Bitcoins besitzen. Tourismus ist eine der wichtigsten Einnahmequellen der heimischen Wirtschaft und Japanerinnen machen eine große Zahl der ausländischen Besucher aus. Zitat von bitcoin.com (meine Übersetzung):
Unter Berufung auf Zahlen von Dalia Research berichtet die Bangkok Post, dass 11% der Japaner Kryptowährungen besitzen, was höher ist als der weltweite Durchschnitt von 7%. Solche Zahlen ermutigen in gewisser Weise die Tourismus-Behörden, Japan vorrangig anzusprechen.
(Dank an Enoh für den Hinweis)
Hong Kongs unabhängiger Rundfunk wird ideologisch gesäubert und der Haltung Pekings angepasst. In Zukunft wird es dann wohl leider keine investigativen Interviews mehr mit WHO-Experten geben, die peinlich um das Thema Taiwan herumschweigen. Das ist ernsthaft ein Verlust. (die Channel News Asia mit mehr Hintergrund)
Taiwan verhaftet hochrangige Ex-Militärs, die angeblich für China spioniert haben. Das berichtet die staatliche taiwanische ROC Central News Agency. Vier ehemalige Beamte des Militärischen Nachrichtendienstes seien am Samstag angeklagt worden, weil sie gegen das Nationale Sicherheitsgesetz und das Nationale Nachrichtendienstgesetz verstoßen hätten. Sie sollen nach ihrer Pensionierung vertrauliche Informationen an China weitergegeben haben. (mehr dazu hier)
China, Fanatismus und Bolsonaro verändern die Wirtschaft im brasilianischen Staat Mato Grosso. Das berichtet die Financial Times in einer interessanten Reportage. Zitat:
In den letzten 20 Jahren hat sich Mato Grosso, ein Bundesstaat mit einer Fläche fast doppelt so groß wie Spanien, zu einem der weltweit führenden Produzenten einer so lukrativen Pflanze entwickelt, dass die Einheimischen sie "grünes Gold" nennen. Es ist ein Boom, der durch die sich verändernde Geopolitik beflügelt wurde, vom Aufstieg Chinas mit seiner unersättlichen Nachfrage nach Nahrungsmitteln bis hin zur Ankunft von populistischen Führern wie dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, der für viele in Mato Grosso ein Idol ist. Er wurde auch durch die Art von Umweltzerstörung und rücksichtslosem Ressourcenabbau angeheizt, die Brasiliens internationales Image in den letzten Jahren getrübt hat. Mato Grosso - auf Portugiesisch bedeutet es "dichter Wald" - wird heute von riesigen, flachen landwirtschaftlichen Plantagen dominiert, die an den Mittleren Westen der USA erinnern. In seinen nördlichen Ausläufern, wo diese Landschaft auf den Amazonas-Regenwald trifft, ist der Bundesstaat zu einem Brennpunkt für illegale Abholzung geworden.
Über China und Brasilien sowie die Rolle des angeblich chinafeindlichen Präsidenten Bolsonaro werde ich in diesem Newsletter demnächst noch ausführlicher sprechen.
Kurzes Update von der Uni Groningen: der betreffende Professor, dessen Lehrstuhl halb vom Dachverband der chinesischen Konfuzius-Institute bezahlt wird (siehe auch den Newsletter von letzter Woche), hat sich in der Studierendenzeitung zu Wort gemeldet (meine Übersetzung):
Ich wurde als Professor für chinesische Kultur und Sprache angestellt. Ich unterrichte Sprachkurse und Kurse in chinesischer Kunstgeschichte. Mein letztes Buch ist eine Sozialgeschichte der Fotografie in China. Wenn es um meine Forschung und meine Ausbildung geht, bin ich völlig unabhängig. Meine Aktivitäten werden von keiner chinesischen Regierungsbehörde beeinflusst.
Als Kunsthistoriker in Großbritannien und den Niederlanden habe ich China dreißig Jahre lang untersucht und besucht. Ich schätze es sehr, dass ich an einer westlichen Universität forschen und lehren darf. Jedes Mal, wenn ich China besuche, spreche ich mit Akademikern, Studenten, Kuratoren, Bibliothekaren und Freunden.
Gerade im letzten Absatz befindet sich implizit ein interessanter Gedanke. Wie kann man ernsthaften Kontakt auf akademischer Ebene mit China aufrecht erhalten, obwohl die politischen Fronten auf beiden Seiten sich verhärten? Darauf werden wir in Zukunft wahrscheinlich noch eine Antwort finden müssen.
Und zum Schluss: der Westen und der Youtube-Algorithmus haben eine interessante Obsession mit einem angeblich japanischen Musikgenre namens “City Pop”. Wer ein bisschen Zeit hat, dem sei dieser Artikel von Cat Zhang auf Pitchfork empfohlen. Interessanter Realitätsabgleich, vor allem weil hier auch die Reaktionen von Japanerinnen auf die merkwürdigen Geschmäcker ausländischer Touristen eingebunden werden. Spannende Reise in ein vertraut wirkendes Paralleluniversum.
Soweit war es das für diese Woche. Kommentare, Themenvorschläge oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bei Paywall-Problemen in verlinkten Artikeln stehe ich gerne mit Hilfe bereit. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!