2021/Woche 6: Du sollst dem Ochsen, der da drischt...
Zum Jahreswechsel: Über kurzzeitige chinesische Frühlingsgefühle mitten im Winter und die Frage, wie es in Myanmar weitergehen könnte.
新年快乐! Das chinesische Jahr der Ratte geht zu Ende, das des Ochsen beginnt. Große Tradition in der Volksrepublik ist das Schauen der gigantischen Gala des Staatsfernsehens zum Jahreswechsel. Wer das nochmal nachlesen möchte, kann dies im Detail bei WhatsonWeibo machen. Von jährlichen Aufregern über Blackfacing bei der Gala bis hin zu Vergleichen zwischen Lieblingsessen und der komplizierten Bühnendekoration - es gibt da anscheinend viel Redebedarf. Für alle Freunde von Veranstaltungen wie dem ESC ist das wohl ein Muss.
Wir machen aber erstmal mit ein paar ernsten Themen weiter.
Risse in der Mauer, Teil 2: Der unerhörte Aufstieg und schnelle Fall von Clubhouse in der Volksrepublik China
Beim ersten Durchgang dieser losen Reihe im Januar ging es um die Möglichkeit, mit Podcasts und RSS Feeds die Great Firewall in Festland-China zu knacken. Darauf aufbauend soll es heute um eine App gehen, die ebenfalls Audio-Content ermöglicht und die von den Zensoren in Peking für ein paar kurze Tage komplett missachtet wurde.
Es geht um die in Deutschland viel gescholtene App Clubhouse. Für alle, die sich mit diesem Hype noch nicht auseinandergesetzt haben: Clubhouse existiert als Invite-Only App nur für iPhone-Nutzer. In Online-Räumen, in die man von anderen Nutzern eingeladen werden muss, finden dann Live-Diskussionen zum Hören statt. Diese können in der App selbst nicht aufgezeichnet werden, was von vielen Usern dennoch über andere Wege gemacht wird. Die App hat in Deutschland bereits die politische Karriere von Bodo Ramelow leicht ins Wanken gebracht und eine für alle Beteiligten äußerst peinliche Diskussion zwischen „Clan-Chef“ Abou-Chaker und einem Spiegel.TV-Journalisten hervorgerufen. Schon davor hatte Sandro Schröder, Podcast-Fachmann beim Deutschlandfunk, eine eher vernichtende Kritik geschrieben:
Bei 'Clubhouse' treffen die schlimmsten Aspekte und Ängste rund um die Logik von Plattformen und sozialen Netzwerken auf einige der nervigsten Aspekte und Ängste rund um Podcasts. Ja, das ist was mit Audio. Das war's für mich aber auch mit der Podcast-Verwandtschaft. Hätte ich einen Podcast, würde ich mir drei Mal überlegen, ob ich Zeit in 'Clubhouse' stecke. Hätte ich noch mehr Zeit zum Hören, würde ich mir drei Mal überlegen, ob ich Zeit in 'Clubhouse' stecke.
Viel Zeit in Clubhouse haben derweil Nutzer in China gesteckt. Die App war nämlich im App-Store in der Volksrepublik bis vor kurzem verfügbar und man konnte sie ohne größere Probleme, nach Einladung durch andere Nutzerinnen, verwenden.
Und dann geschah etwas ernsthaft Bemerkenswertes: in den Clubhouse-Räumen entwickelten sich letzte Woche zutiefst reflektierte, nachdenkliche und aufmerksame Diskussionen zu ansonsten vollständig zensierten Themen wie dem Völkermord an den Uiguren, dem Zustand der Demokratie in Hong Kong oder allgemeineren Themen wie Menschenrechten und politischer Freiheit. Es wurde heftig debattiert und gestritten. Vor allem fiel aber auf, wie sehr Han-Chinesen sich kritisch mit ihrer eigenen Rolle als Bevölkerungsmehrheit und auch mit der Regierung auseinandersetzten.
Han werden die Angehörigen der größten ethnischen Gruppe Chinas genannt. Sie machen über 90% der Bevölkerung aus, weshalb Han-Kultur oft auch mit chinesischer Kultur gleichgesetzt wird. Die Kommunistische Partei hat in den letzten Jahren verstärkt versucht, ethnische und religiöse Minderheiten in Tibet, Xinjiang oder auch der Inneren Mongolei an die Mehrheitsgesellschaft der Han-Chinesen anzupassen. Das hat immer wieder zu Protesten und Konflikten geführt.
Wortschöpfung der Woche: Han-Splaining
Kaiser Kuo, Moderator des Sinica Podcasts, scheint dabei sein gesamtes letztes Wochenende auf Clubhouse verbracht zu haben und hat per Twitter dieses historische Ereignis live in einem lesenswerten Thread dokumentiert:
Es ist schwierig, hier in ein paar Zeilen darzustellen, wie relevant dieser kurze Moment des gemeinsamen Diskutierens in China gewesen sein muss. Wenn tausende Menschen einen offenen Dialog suchen und zu neuen freien Erkenntnissen in einem geschlossenen Regime kommen, dann sollte das nicht heruntergespielt werden. So spielten sich teilweise dramatische Szenen ab. Eine Uigurin, die Han-Chinesen mit ruhiger Stimme vom Zustand in Xinjiang berichtet; Chinesen, die harsche Kritik an der eigenen Regierung äußern und die (von der Kommunistischen Partei als Propaganda bezeichneten) Berichte der BBC über Massenvergewaltigungen an Uigurinnen als wahr empfinden; Moderatoren in Chat-Räumen, die versuchen, allen Beteiligten gleich viel Zeit zum Sprechen zuzuteilen; und die sich langsam einschleichenden Spione der Regierung, die Gespräche aufgezeichnet und Diskussionen unterbrochen haben.
BBC World News ist als Fernsehkanal übrigens seit gestern, pünktlich 40 Minuten nach Jahreswechsel, in China gesperrt worden. Gründe sind sicherlich die Reportagen über den Völkermord an den Uiguren und die Sperrung von Chinas eigenem Staatssender in Großbritannien vergangene Woche. (Al Jazeera dazu)
Melissa Chan kam zu folgendem Ergebnis über die Clubhouse-Situation in einem Bericht für Foreign Policy (meine Übersetzung):
Zuweilen wirkten die Teilnehmer wie begeisterte West- und Ostberliner, die 1989 entlang der durchbrochenen Mauer der geteilten Stadt aufeinander trafen.
Kann so viel Meinungsfreiheit in China überleben? Die Antwort kam bereits am Montag: Clubhouse ist mittlerweile in Festland-China gesperrt. Der Suchbegriff ist außerdem in allen relevanten Suchmaschinen zensiert.
Doch das ungewollte Experiment zeigt, wie eine Welt ohne chinesische Firewall aussehen könnte. Die digitale Weltgemeinschaft wäre besser vernetzt, chinesische Netizens in den internationalen Diskurs eingebunden. Gleichzeitig gibt es Annahmen unter Beobachtern, dass ohne die Great Firewall es logischerweise zu mehr traditioneller Zensur und Unterdrückung der Meinungsfreiheit in China kommen müsste, damit unliebsame Informationen nur begrenzt nach außen drängen könnten.
(Mehr Gedanken dazu im Politico Chinawatcher von gestern)
Was bleibt von diesem kurzen Abenteuer übrig? Die wichtigste Erkenntnis dürfte sein, dass Beobachter Chinas ihren Zynismus gegenüber der Bevölkerung vielleicht ein wenig reduzieren sollten. Offensichtlich gibt es gut informierte und besorgte Chinesen in größerer Anzahl, die sich mit den Problemen des eigenen Systems auseinandersetzen und die nicht nur auf das fortlaufende Wirtschaftswachstum und den eigenen Wohlstand achten. Und da viele Menschen in der Volksrepublik auch technisch versiert genug sind, könnte die App im Untergrund weiter für Diskussionen sorgen. Solange sich nicht zu viele Trolle und Parteigänger in die Räume einschmuggeln.
Dringende Hörempfehlung: Diese vor wenigen Stunden erschienene Ausgabe vom Sinica Podcast empfängt ein Paar Gäste, die an der Clubhouse-Diskussionsrunde zur Lage in Xinjiang beteiligt waren.
Myanmar-Update: Was kommen könnte
Auch diese Woche bleibt uns das Thema Staatsstreich in Myanmar erhalten. Während direkt nach dem Coup kaum Demonstrationen auf den Straßen Myanmars zu beobachten waren, kam es mittlerweile erst zu häuslichen Protesten mit lautem Topf-und Pfannenschlagen und seit einigen Tagen durchgehend zu Straßenprotesten. In den internationalen Medien bleibt dabei oft der Eindruck, die Proteste seien überwiegend friedlich. Tatsächlich kommt es verstärkt zu Übergriffen durch die Sicherheitskräfte, bei denen Menschen verletzt und getötet wurden:
Wie wird es jetzt aber weitergehen? Das Militär sitzt wieder fester im Sattel, kündigte aber gleichzeitig eine graduelle Rückkehr zu einer demokratischeren Staatsform im Laufe des kommenden Jahres an.
Ich war diese Woche in der glücklichen Lage, einigen Ausführungen von Christian Gilberti zuhören zu können. Er ist PhD-Kandidat in London und beschäftigt sich mit burmesischer Geschichte. Hier einige grundlegende Fakten, die bei den derzeitigen Ereignissen in Myanmar beachtet werden sollten:
Die Verzögerung zwischen Militärputsch und den Protesten resultierte anscheinend in der kompletten Überrumpelung. Mit einem Coup hatte wohl niemand ernsthaft gerechnet
Das Militär behauptet, die Macht an sich gerissen zu haben, weil es zu Betrug bei den Wahlen Ende 2020 kam. Tatsächlich kam es zu einigen, wenn auch eher untergeordneten Problemen. So wurde die Wahl gerade in den Regionen ausgesetzt, in denen ethnische Minderheiten vertreten sind
Die NLD, Aung Sang Suu Kyis Partei, hat in den vergangenen Jahrzehnten, vor allem aber seit ihrer Regierungsbeteiligung ab 2012, fast nur die Interessen der buddhistischen Mehrheit vertreten. Minderheiten sehen die NLD absolut kritisch. Dieses Spannungsverhältnis erklärt auch die Haltung von Suu Kyi bezüglich des Völkermords an den überwiegend muslimischen Rohingya
Das Militär, oder Tatmadaw, spielt in der Gesellschaft eine übergroße Rolle. Viele Bewohner Myanmars verdanken dem Militär einen sicheren Job, weshalb das Image der Tatmadaw in der weiteren Bevölkerung nicht so negativ ist, wie man es von außen vielleicht vermuten würde
Die NLD und besonders die allmächtige Aung Sang Suu Kyi haben die vergangenen Jahre kaum genutzt, um die Lebensverhäntnisse im Land grundlegend zu verbessern. Dabei muss allerdings auch berücksichtigt werden, dass das Militär schon aufgrund der Verfassung praktisch keine Macht seit der „Demokratisierung“ der letzten Jahre abgegeben hat. So verfügen die Tatmadaw über eine parlamentarische Sperrminorität, die eine Änderung der Verfassung unmöglich macht
Die kommenden Wochen könnten auch düster werden, da international zwar eine Ablehnung des Militärputsches besteht (so haben die USA nun Sanktionen eingeleitet), es aber wenig Unterstützung für die bisherige zivile Regierung gibt. Die NLD und Suu Kyi haben fast ihren gesamten Kredit verspielt in der Rohingya-Frage, besonders nach Suu Kyis Auftritt vor dem Internationalen Gerichtshof im letzten Jahr. Der wichtigste internationale Faktor für Mynamar bleibt China, welches mit umfangreichen Investitionen in dem Land vertreten ist. China verfolgt weiterhin eine Politik der Nicht-Einmischung gegenüber Partnerländern. Im Gegensatz zu Washington ist es Peking daher egal, ob es mit einer Demokratie oder einer Militärdiktatur zu tun hat.
Wer sich für die lange Geschichte von Putsch-Versuchen in Myanmar und die Verbindung zur untergegangenen Monarchie des Landes interessiert, kann sich in diesem Blogeintrag von Christian Gilberti und Indrė Balčaitė vertiefend informieren.
Myanmar ist, wie seine Nachbarländer, auch eine Nation, in der Milchtee in rauen Mengen konsumiert wird. Naheliegend ist daher auch, dass die neue Protestbewegung gegen die Tatmadaw in die Milk Tea Alliance von Aktivistinnen in Thailand, Taiwan, Indien und Hong Kong aufgenommen wurde:
Die Frage ist nur, wie sehr für die Demonstrantinnen in Myanmar der Anti-China-Faktor der Milchteefreunde relevant ist...
Was sonst noch geschah..
Wöchentliches Update zu den Olympischen Spielen in Tokyo: die Sexismus-Problematik rund um die Äußerungen von Komitee-Chef Mori gerät außer Kontrolle. Viele Freiwillige geben ihre Arbeit aus Protest auf. Mori hatte behauptet, dass Frauen in Versammlungen zu viel reden. (Männliche) Regierungspolitiker finden, dass so eine Äußerung nun wirklich kein Problem sei und dass die Aussagen Moris nicht unangemessen erschienen. Mori ist heute dann doch zurückgetreten. Tokyos Gouverneurin Koike Yuriko war bereits Tage zuvor nicht mehr zu einem Treffen mit Mori erschienen.
The more I think about it, Koike backing out of a meeting with Mori after the latter said women talk too much in meetings strikes me as a rather effective statement of protest.【波紋つづく 聖火ランナー辞退も】 #森会長 の女性蔑視発言から1週間、#聖火ランナー を辞退した人も…。さらに東京都の小池知事は、来週予定されていた4者会談を欠席すると明言。自治体の首長からも、森氏の責任を問う声があがっています。 #news23 https://t.co/SDiiH8YpFJTBS NEWS @tbs_newsUS-Präsident Biden bereitet Japans Politiker schon einmal mental auf die mögliche Absage der Olympischen Spiele vor (per Asahi Shimbun)
China drängt voran mit mehr patriotischer Erziehung in Hong Kong: „Kritisches Denken“ wird durch „Staatsbürgerkunde“ ersetzt, laut Bloomberg
Taiwan wollte ein neues Verbindungsbüro in Guayana öffnen, um die diplomatischen Beziehungen mit dem südamerikanischen Staat zu vertiefen. Das wurde von Peking bewusst verhindert. Das New Bloom Magazine mit einer kritischen Bewertung von Taiwans Taktik, diplomatische Erfolge immer schon ein wenig zu früh feiern zu wollen
Südkoreas Handelsministerin, Yoo Myung-hee, hat ihre Kandidatur für den Vorsitz der WTO zurückgezogen. Sie war unter anderem von der ehemaligen Trump-Regierung unterstützt worden, um die Kandidatin Nigerias, Ngozi Okonji-Iweala, zu verhindern (mehr dazu bei Blue Roof Politics)
Sinovac hat bereits seinen zweiten Coronavirus-Impfstoff als einsatzfähig präsentiert, per Axios
Ein weiterführender Hinweis von Konsti zum Hauptthema der vergangenen Woche („Deutsche Eliten haben keine Ahnung von China und das ist ein wachsendes Problem“): Ein Treffen, bei dem Angela Merkel dem chinesischen Präsidenten Xi eine historisch …naja… schwierige Landkarte von China schenkte. (Der Artikel in der Foreign Policy findet sich hier).
Nächste Woche geht es, neben aktuellen Themen, auch ein wenig vertiefend um das japanische Wahlsystem. Wie ja schon öfters erwähnt wurde, werden dort irgendwann dieses Jahr die Wahlen zum Unterhaus stattfinden. Dabei möchte ich kommenden Freitag einmal erklären, warum eigentlich nur die jetzige Regierungspartei LDP gewinnen kann. Für Links oder auch bestehende Fragen zu dem Thema ist jeder Hinweis willkommen und wird gerne beim kommenden Mal berücksichtigt.
Soweit war es das für diese Woche. Kommentare, Themenvorschläge oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bei Paywall-Problemen in verlinkten Artikeln stehe ich gerne mit Hilfe bereit. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!