2021/Woche 30: Von Realpolitik und Magischem Realismus
Strategische Analysen zu Chinas AUKUS-Reaktionen. Danach Eskapismus mit einer Buchrezension.
Willkommen zurück. Heute starten wir mit einer genaueren Untersuchung der chinesischen Reaktionen auf AUKUS, einem Sicherheitsbündnis, dass sich klar gegen Pekings Einfluss positioniert. Außerdem gibt es eine Rezension zur lesenswerten Kurzgeschichtensammlung Land of Big Numbers von Te-Ping Chen. Und wir dürfen uns auf südkoreanische Schamanen-Theorien in den sozialen Medien freuen.
“Amerika verliert den Verstand”: Pekings Perspektive auf AUKUS
Verfasst zusammen mit der Schattenredaktion.
Auch wenn die Ankündigung des neuen Sicherheitsbündnisses AUKUS und der damit verbundene Erwerb kernkraftbetriebener U-Boote durch Canberra praktisch die gesamte internationale Gemeinschaft überraschten, war die Bedeutung und Ausrichtung der Dreier-Allianz doch von Beginn an klar: AUKUS soll dem wachsenden Einfluss Pekings im Südchinesischen Meer und darüber hinaus im Indopazifik entgegenwirken. Chinas wachsende Begeisterung beim Bau künstlicher Inseln zur Erweiterung des eigenen Hoheitsgebiets auf Kosten der Nachbarländer wie Vietnam oder den Philippinen sind schließlich keine Neuigkeit.
Dass es gerade auch Australien ist, welches die regional relevante Komponente in die AUKUS-Gruppe mit den USA und dem Vereinigten Königreich bringt, überrascht weniger. Australiens Wirtschaft ist stark von chinesischem Kapital abhängig. Wichtigste Exporte aus Australien ins Reich der Mitte beinhalten neben zahlreichen Rohstoffen vor allem auch landwirtschaftliche Produkte.
Offiziell wurde nur verlautbart, man wolle „den wachsenden Sicherheitsbedenken in der Region“ entgegenwirken. Diese Bedenken beruhen aus Sicht Australiens und vor allem auch der USA vor alle auf dem Handeln Pekings.
So wurde es auch in der chinesischen Hauptstadt verstanden. Sprecher des Außenministeriums Zhao Lijian, bekannter Wolfskrieger und spezieller Twitter-Freund Australiens, bezeichnete das AUKUS-Bündnis in einem ersten offiziellen Statement dann auch als „extrem unvernünftig“. Für Lijians Verhältnisse muss man das wohl fast als eine gemäßigt diplomatische Äußerung durchgehen lassen.
Die englischsprachige Ausgabe der Global Times ging vor allem auf die nuklearen U-Boote ein, die nun an Australien verkauft werden sollen (meine Übersetzung):
Die USA sind dabei, ihr Bündnissystem hysterisch zu polarisieren. Der Einsatz einer externen Kraft, um "Mittelmächte" wie Australien auf das Verteidigungsniveau des Besitzes von atomgetriebenen U-Booten zu bringen, ist ein starke Demonstration für Mittelmächte in aller Welt. Obwohl Washington behauptet, dass Australiens nuklear angetriebene U-Boote keine Atomwaffen tragen werden, sind solche Einschränkungen nicht zuverlässig. U-Boote mit Nuklearantrieb sind von Anfang an als strategische Schlagwaffen konzipiert.
[…]
Washington verliert den Verstand, wenn es versucht, seine Verbündeten gegen China aufzubringen, was zu Feindseligkeit und Zerstörung führt, die es nicht kontrollieren kann. Es hat sich darauf verlegt, China anzugreifen, ohne die Möglichkeit eines Rückschlags ernsthaft abzuschätzen. Der Krieg in Afghanistan, der sich durch eine der stabilsten Perioden der Welt insgesamt zieht, hat die USA in Verlegenheit gebracht. Wenn die Welt wirklich chaotisch wird, werden die USA noch viele weitere Rückschläge erleiden und noch tiefer fallen.
Auch hier wieder zu erkennen: das Narrativ, wonach der Westen und vor allem die USA sich in einem unaufhaltsamen Niedergang befinden. Auch ein neues Bündnis wie AUKUS könne da wohl nicht mehr helfen. In einem weiteren Meinungsartikel wurden Anrainerstaaten auch wie die Quad-Mitglieder Japan und Indien gewarnt, sich nicht zu sehr mit der Sache der USA gemein zu machen.
In einem Xinhua Kommentar zu AUKUS und dem damit verbundenen U-Boot-Deal wird vor allem auf die Gefahr der nuklearen Proliferation hingewiesen und die Beteuerungen Canberra’s weder Entwicklung oder Erwerb nuklearer Waffen anzustreben als Vorwand abgetan. Die hier ausgedrückte Sorge ist, dass Australien mit dem Erwerb nuklearer U-Boot-Technologie sich die strategische Möglichkeit eines Nuklearwaffenerwerbs offenhalten wolle. Darüber hinaus wird der AUKUS Deal als schwere Schädigung der regionalen Stabilität beschrieben und als Gefahr für die nukleare Sicherheit auf der koreanischen Halbinsel. Mit Verweis auf australische Kritiker hebt ein weiterer Xinhua Beitrag hervor, dass der AUKUS-Deal ein weiterer Schritt hin zu einem Verlust australischer Unabhängigkeit darstellt.
Ähnlich äußert sich auch ein Journalist der Tageszeitung der Jugendorganisation der KPCh. Der Beitrag in der China Youth Daily titelt spektakulär, dass es bei AUKUS um eine Intrige und um Verrat an den Franzosen gehe und dass das Ergebnis der neuen Sicherheitspartnerschaft eine Schädigung der regionalen Ordnung sei. Der Beitrag greift die durch Xinhua bereits gesetzte Parteilinie auf, dass der Deal eine ernstzunehmende Proliferationsgefahr deutlich mache.
Es ist hier vor allem interessant, dass China unter dem Druck steht die militärische Gegenmachtbildung zu diskreditieren ohne Zweifel an der Notwendigkeit seiner eigenen maritimen Aufrüstungsbemühungen aufkommen zu lassen. Diese massive Aufrüstung ist in allen Bereichen der chinesischen Seestreitkräfte und der Küstenwache zu beobachten. Wenn man sich jedoch allein auf die Unterseefähigkeiten der VBA Marine konzentriert wird die Scheinheiligkeit chinesischer Kritik deutlich. China besitzt 59 U-Boote, wovon 6 der strategischen Abschreckung dienen und der Rest als taktisch klassifiziert werden kann.
Chinas Aufrüstung und Aggressionen lösen derweil weiterhin reale Befürchtungen aus. Auch wenn nicht direkt als Reaktion auf AUKUS zu sehen, hat die Anzahl militärischer chinseischer Flugzeuge, die wiederholt in die taiwanische Luftraumüberwachunsgzone eingedrungen sind, in den letzten Wochen und Tagen neue Höhen erreicht. Auch wenn es sich bei dieser Zone nicht um staatliches Hoheitsgebiet (oder gar ein völkerrechtliches Konzept) handelt, sind diese Flüge als grenzüberschreitende Botschaft Pekings nicht nur gegenüber Taipeh zu verstehen.
Das ist dann zwar an sich vielleicht keine große Meldung mehr wert, jedoch haben diese Flüge zuletzt stark zugenommen. Timothy Heath, Verteidigungsexperte beim amerikanischen Think Tank RAND, spricht vor allem von der wachsenden Möglichkeit, dass es zu einer „verheerenden Fehlkalkulation“ auf beiden Seiten kommen könne, je öfter die Flugzeuge sich Taiwan nähern.
Buchrezension: Von großen Zahlen, neuem Obst und kleinen Freiheiten
Land of Big Numbers. Von Te-Ping Chen. Mariner/Houghton Mifflin Harcourt; 256 Seiten; 9,39€ (E-Book) bzw. 16,50€ (Taschenbuch) - Amerikanisches Original
Ist es nicht schön hier. Von Te-Ping Chen, übersetzt aus dem Amerikanischen von Anke Carolin Burger; aufbau Verlag; 251 Seiten; 14,99€ (E-Book) bzw. 22€ (gebunden) - Deutsche Übersetzung
Verfasst zusammen mit Swaantje Otto.
Am Anfang steht eine junge Frau. Sie ist hochintelligent, ambitioniert – und auch ungehorsam. Ihre Auffassungsgabe und Zielstrebigkeit bringen ihr zunächst den gewünschten Erfolg in Schule und Studium. Doch ihre Empathie und ihr Urteilsvermögen bewegen sie dazu, das politische System, in dem sie lebt, in Frage zu stellen und anzuprangern.
Dabei lernen wir Lulu nur indirekt kennen. Wir erfahren ihre Geschichte durch die Augen ihres Zwillingsbruders, der deutlich weniger ambitioniert und auch weniger (sozial)kritisch ist.
Mittels Figurenhandeln und interpersoneller Charakterisierung im showing repräsentiert Te-Ping Chen ihre erste Protagonistin als eine tragische Heldin, deren Niedergang durch Widerstand determiniert ist - mit Autonomie als einem Hauptmerkmal der Figur erinnert Lulu an Antigone, den literarhistorischen Urtyp weiblich-empathischen und dabei aussichtslosen Widerstandes, der durch Mitgefühl motiviert ist und ethische Integrität zum Ziel hat. Die erste Erzählung in Chens Kurzgeschichtensammlung Land of Big Numbers ist dabei eine politisch engagierte und poetisch wirksame Einleitung der nachfolgenden Episoden, die uns gleichermaßen Einblick in die Tristesse und die Magie des chinesischen Alltags gewähren.
Chen, ehemalige China-Korrespondentin für das Wall Street Journal, schafft es auf gut zweihundert Seiten und in zehn abwechslungsreichen Geschichten, die Lesenden in eine Welt zu entführen, von der man in der Berichterstattung über China sonst wenig liest. Es eröffnet sich eine Welt voller alltäglicher Hoffnungen auf kleinster Ebene, aber auch voller Gewalt und staatlicher Willkür, die mal unterschwellig, mal sichtbar das Leben der Protagonist*innen formt.
Lulus Bruder hat sich im Gegensatz zu ihr mit dem politischen System arrangiert. Gleiches gilt für die Heldin der zweiten Geschichte, Hotline Girl. Auf der Flucht vor einem gewalttätigen potentiellen Ehemann in ihrer Heimatstadt flieht Bayi in die große Metropole – und richtet sich als Telefonistin für die staatliche Beschwerdehotline ein. Sie kann mit ihrem eigenen Einkommen ein kleines persönliches Paradies in der anonymen Großstadt einrichten und frei über ihr Leben verfügen.
Der alte Cao Cao wiederum träumt in der dritten Geschichte, Flying Machine, davon, ein eigenes Flugzeug in seinem Garten zu bauen und trotz seines hohen Alters doch noch in die Kommunistische Partei aufgenommen zu werden. Als sein Konstrukt partout nicht vom Boden abheben will, bleibt es an einem kleinen Mädchen, ihn über seine falschen Vorstellungen von der Allmacht der Partei aufzuklären:
"Eigentlich ist es besser als Fliegen", sagte sie. "Ich war schon mal in einem Flugzeug."
"Ach, wirklich?"
"Es ist, als säße man die ganze Zeit in einem Raum", sagte sie. "Man spürt es nicht wirklich. Es ist nicht so, wie man es erwarten würde."
"Der Parteisekretär sagte, es sei erstaunlich", sagte er.
"Der Parteisekretär", sagte sie, "ist ein Idiot."
Als sie zum Stehen kamen, stieg sie in ihren weißen Absätzen zierlich aus. "Danke, Cao Cao!", sagte sie und ging davon, während er sie anstarrte.
Was die Geschichten für Leserinnen, die keine ausgewiesenen China-Experten sind, so zugänglich macht, ist neben ihren zuweilen liebenswürdig unvollkommenen, zuweilen eindrucksvollen Figuren der fast nachrichtlich sachliche Schreibstil der Journalistin Chen, den sie allerdings mühelos variiert mit magisch-realistischen wie auch dystopischen Einschlägen. Die Klaustrophobie am U-Bahnhof Gubeikou, von dem die verbliebenen Passagiere nicht mehr entkommen können, wird spürbar beim Lesen und lässt das Schicksal der Betroffenen so kafkaesk wie empörend zugleich erscheinen.
Die übernatürlichste Erzählung der Sammlung, New Fruit, erinnert stark an Gabriel García Márquez, ebenfalls gelernter Journalist, und seinen magischen Realismus, der sich ohne Weiteres an der kolumbianischen Atlantikküste verorten ließe. Eine Stadt wird in einem Jahr von einer neuartigen Frucht ‘beglückt’, die auf einmal in den Läden zu finden ist. Die Menschen sind begeistert:
Diejenigen von uns, die die Qiguo aßen, bemerkten, dass die Sonne warm auf unseren Gliedern brannte, und der Klang einer Fahrradklingel, die draußen bimmelte, erinnerte uns an die warme Luft, an die Frühlingsbrise, an die Möglichkeiten. Wir lächelten öfter, ließen unsere Blicke sich auf der Straße treffen. "Heute hatte ich eine, die so schmeckte, als hätte ich gerade einen guten Witz erzählt, und alle haben gelacht", würde Lao Sui sagen. Mütter fütterten ihre Babys mit pürierten Fruchtstücken, und wir drängten uns um sie, um die Überraschung und das Staunen in ihren kleinen Gesichtern zu beobachten.
Doch die Freude des Sommers verwandelt sich in Ekel, Angst und Schuldbewusstsein, als der Genuss der Qiguo mit der kommenden Ernte genau das Gegenteil bewirkt und die Menschen mit ihren Abneigungen, ihren Schattenseiten und Schuldgefühlen konfrontiert. Die Regierung wiederum lässt mit einer fast unsichtbaren Hand die Felder vernichten, auf denen die wundersame und zugleich beängstigende Frucht zuvor gedeihen durfte.
Die Qiguo ist nur eine von unzähligen Metaphern, verspielt oberflächlichen Anspielungen auf ein Regime, das in seiner totalen Kontrolle immer behutsam und so gut wie möglich im Hintergrund zu wirken versucht.
Mehrere Geschichten spielen in den USA und zeigen die persönlichen Verbindungen zwischen Ost und West auf. In Zeiten, wo China in den Nachrichten fast immer nur dann auftaucht, wenn die politische Führung weltbewegende Veränderungen ankündigt oder Nachbarländer durch Peking bedroht werden, erlaubt uns Chen kurze Einblicke in einen Alltag, wie er chinesischer nicht dargestellt werden kann. Gleichzeitig besitzen die Handlungen und Charaktere oft eine Qualität von universaler Gültigkeit. Auch Lesende außerhalb von autoritären Regimen können sich mit den Handelnden identifizieren. Chens erster Vorstoß in die Welt der Literatur ist so erfrischend wie notwendig, gerade in diesen Zeiten.
Weiterführend:
Interview mit der Autorin in der Frühsendung “Morning Edition” von NPR.
Ausführlicheres Interview im Podcast “Sinica” von SupChina.
Rezension auf Deutsch vom Saarländischen Rundfunk.
Was sonst noch im Indopazifik wichtig war:
Interessantes zur LDP-Vorsitzendenwahl in Japan: Der Newsletter Nihonpolitics schlüsselt noch einmal genauer auf, was ich letzte Woche an dieser Stelle erklärt habe, vor allem die Auffälligkeiten der Wahl von Kishida zum neuen Vorsitzenden. Interessant vor allem: die Stimmenverteilung für Kono Taro und Kishida Fumio in den einzelnen Präfekturen. Da lassen sich die regionalen Machtverhältnisse der LDP-Granden sehr gut ablesen.
Die Rückkehr der Schamanen?: Aberglaube ist ein rotes Tuch für Südkoreas Konservative. Das liegt vor allem daran, dass die inhaftierte Ex-Präsidentin Park Geun-hye sich von einer Schamanin nach Strich und Faden über den Tisch hat ziehen lassen und bis 2017 staatliche Gelder in horrenden Mengen in dunkle Kanäle leitete. Der jetzige Spitzenkandidat der Konservativen für die Präsidentschaft, Yun Seok-yeol, fiel in letzter Zeit immer wieder durch das chinesische Schriftzeichen 王 (“König”) auf, das mit einem Stift auf die Innenseite seiner Hand geschrieben stand. In sozialen Medien wird deshalb intensiv über mögliche abergläubische Anwandlungen von Yun diskutiert.
Neuanfang in der Südsee: Samoa hat eine neue Premierministerin. Es ist der erste Wechsel an der politischen Spitze des Landes seit 22 Jahren. Der Amtsantritt von Fiame Naomi Mata’afa erfolgte in einem Chaos, nachdem ein knapper Wahlausgang und eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs heftig diskutiert wurden. Kurzzeitig hatte der Inselstaat sogar formal gesehen zwei parallele Regierungen. The Diplomat mit einer Übersicht.
Soweit war es das für diese Woche. Kommentare, Themenvorschläge oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bei Paywall-Problemen in verlinkten Artikeln stehe ich gerne mit Hilfe bereit. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!