Woche 5: Der Firmenchef, der Geigenkasten und das Justizsystem
Der Fall Carlos Ghosn taucht auf einmal wieder auf. Eine gute Gelegenheit, diese bizarre Geschichte nochmal Revue passieren zu lassen.
Wir stochern diese Woche ein wenig in der Vergangenheit und stellen aus aktuellem Anlass ein paar elementare Fragen über den Rechtsstaat in Japan. Dann schauen wir mit einem ähnlichen Thema kurz nach Südkorea.
Tokyo bei Nacht. Foto: @freeman_zhou (unsplash.com)
Phase 1: Der Aufstieg
Es war eine revolutionäre Entwicklung in der sonst so verschlossenen japanischen Industrie: der französische Autobauer Renault und das japanische Unternehmen Nissan hatten sich gegen Ende der 1990er zu einer „strategischen Firmenallianz“ zusammengeschlossen. Die graue Eminenz treibende Kraft hinter diesen Entwicklungen war der damalige Renault-Manager Carlos Ghosn, ein in Brasilien geborener libanesisch-französischer Geschäftsmann (oder wie man ihn wegen seiner ambitionierten Pläne auch nannte, Le Cost Killer).
Die Kooperation Nissan-Renault basiert vor allem auf geteilten Ressourcen und Produktionskapazitäten, wobei sich die Marken in den meisten Märkten weltweit nicht zu sehr als Konkurrenten gegenüberstehen. Formal gefestigt ist die Allianz auch durch den Austausch von Aktien, so dass Nissan und Renault jeweils Minderheitsanteile an der anderen Firma besitzen.
Nissan ist zwar der größere Konzern, doch in der Allianz war vor allem Renault tonangebend, auch aufgrund des Aktienvolumens.
Die japanische Wirtschaft ist traditionell eher abgeneigt, ausländischen Managern ein Mitspracherecht in heimischen Unternehmen zu geben. Carlos Ghosn war die klare Ausnahme. Das zeigte sich, als 2016 neben Nissan mit Mitsubishi ein weiterer traditionsreicher Automobilkonzern in die Allianz mit Renault aufgenommen wurde. Ghosn war zu diesem Zeitpunkt bereits lange Zeit in Tokyo und nicht mehr in Paris tätig. Mit seinem aggressiven Management-Stil ist er dabei in der konservativen Geschäftswelt Japans wohl dem einen oder anderen Konkurrenten auf die Füße getreten.
Phase 2: Die Festnahme
Mitte 2018 kam dann die Rechnung: Ghosn wurde von der japanischen Polizei festgenommen wegen angeblich gefälschter Geschäftsbücher bei Nissan. Nach mehrmaligen Freilassungen und Festnahmen war Ghosn Anfang 2019 dann auf Kaution freigelassen worden und stand in Tokyo unter Hausarrest. Weitere Ermittlungen wegen dubioser Geschäftspraktiken wurden in dieser Phase eröffnet. Was genau dahinter stand, ist schwer zu sagen. Vielleicht war Le Cost Killer wirklich kein sauberer Geschäftsmann? Oder standen da andere Motive im Vordergrund.
Stefan Menzel vom Handelsblatt meinte 2019 dazu:
Der französische Staat hat durch Beteiligungen Einfluss auf Renault. Wenn die Allianz auseinanderbricht, wäre das ein großes Problem auch für die Regierung in Paris.
Die Treiber hinter der Festnahme waren andere Vorstandskollegen bei Nissan, die eigentlich auch an den dubiosen Geschäftspraktiken beteiligt gewesen sein müssen.
Durch die Entwicklungen ist eine komplette Fusion der Unternehmen in weite Ferne gerückt
Das ganze Interview bei detektor.fm durfte ich damals mit vorbereiten und lohnt sich meiner Meinung nach nochmal zum Nachhören.
Phase 3: Die Flucht
Das Drama hatte damit noch nicht seinen Höhepunkt erreicht, denn Ende 2019 vermeldeten japanische Medien, dass Ghosn von den Behörden unbemerkt aus dem Land geflohen war:
Versteckt in einem Kasten für Musikinstrumente gelangte Ghosn in einen Privatjet und konnte Japan verlassen
vom sicheren Exil in Libanon (es besteht kein Auslieferungsabkommen zwischen Tokyo und Beirut) warf er den japanischen Behörden fragwürdige Praktiken und Menschenrechtsverletzungen vor
Ghosn sei während den wiederholten Haftaufenthalten über lange Zeit in unbeheizten Räumen festgehalten worden
Die Vorwürfe sind nicht ganz aus der Luft gegriffen. Japans Justizsystem ist bekannt für konkrete Defizite. So werden 99,9% aller Verdächtigen auch verurteilt. Ermittlungsbehörden können Tatverdächtigen über einen längeren Zeitraum jeglichen Rechtsbeistand verweigern. Außerdem (auch wenn für den Fall Ghosn irrelevant) gibt ist in Japan für bestimmte Verbrechen immer noch die Todesstrafe vorgesehen.
Im November 2020 bestätigte nun eine Arbeitsgruppe des UNO-Menschenrechtsrats die Anschuldigungen des Topmanagers: Es handele sich um „willkürlichen Freiheitsentzug“, der mit völkerrechtlichen Verpflichtungen Japans nicht vereinbar sei. Japan solle „Le Cost Killer“ daher Entschädigung zahlen (Die Empfehlungen der Gruppe sind nicht rechtlich bindend).
Der Fall Carlos Ghosn ermöglicht eine ganze Reihe von Einblicken: in die Wirtschaftswelt Japans, in das Rechtssystem des Landes. Und natürlich die Tatsache, dass ein Instrumentenkasten und ein bereitstehender Privatjet immer hilfreich sind, wenn man unbemerkt ein Land verlassen möchte.
Damit (lose) verbunden...
Auch Südkorea hat Defizite in seinem Rechtssystem: Strafverfolgungsbehörden sind seit langer Zeit bekannt dafür, dass sie politisch motivierte Ermittlungen einleiten. Je nach Regierung ändern sich die Zielpersonen für die Behörden. Eine Reform der Regierung unter Präsident Moon sollte das nun verbessern, aber hat anscheinend nur eine neue Behörde geschaffen, die ähnlich politische Praktiken wie zuvor weiterführt. Mehr dazu im aktuellen Economist.
Wie versprochen diese Woche ganz ohne China-Fokus. Zum Jahresende habe ich die Idee, in den nächsten Wochen noch einmal ein wenig auf die vergangenen zwölf Monate zurückzuschauen. Alle Themenvorschläge oder auch Nachrichtenquellen mit einem Fokus auf Ostasien sind daher herzlich willkommen. Genauso natürlich auch andere Hinweise oder Kritik, wie immer per E-Mail an ausblickost [at] gmail.com oder über Twitter.