Willkommen zurück, nach einer länger als geplanten Pause. Diese war beruflich und gesundheitlich bedingt. Kommende Woche wird der Newsletter ein weiteres Mal entfallen, da ich im Urlaub bin. Danach sollte es aber bis Weihnachten wieder einen normalen Erscheinungsrhythmus geben.
Am Ende hat es alles nichts gebracht. Die überteuerten Wahlgeschenke, die nach dem ersten Wahlgang vor allem ärmere Wählerschichten von der linken Arbeiterpartei wegbewegen sollten; die Blockaden von Hauptverkehrsadern, die den Wählenden den Weg zur Urne versperren sollten; die immer wieder geäußerten Andeutungen, das elektronische Wahlsystem für manipuliert zu halten und ein schlechtes Wahlergebnis nicht anerkennen zu wollen.
Zugegeben, die Taktik Jair Bolsonaros ist auch beinahe aufgegangen. Am Sonntagabend war das Ergebnis so knapp wie noch nie in den Jahrzehnten seit der Redemokratisierung. Als Ex-Präsident Lula dann erst vom Umfrageinstitut Datafolha und keine Stunde später von führenden Medien als Sieger verkündet wurde, blieb es im Bolsonaro-Lager verdächtig still.
Kein Spielraum für Spielchen
Diese Stille wurde jedoch schnell von Diplomaten und Staatsführerinnen gefüllt, die Lula zur Wahl gratulierten und Bolsonaros Spielraum, die Wahl anzuzweifeln, noch am Wahlabend taktisch zunichte machten. Montagfrüh hatten dann bereits sein Vizepräsident Hamilton Murão und auch der mit Bolsonaro verbündete Sprecher des Abgeordnetenhauses, Arthur Lira, Lula zum Wahlsieg gratuliert. Lira kündigte Lula auch eine breite Mehrheit im Abgeordnetenhaus an, sollte der neue Präsident die Wiederwahl Liras zum Parlamentssprecher unterstützen. Ebenso das Ergebnis anerkennend äußerten sich Ex-Justizminister Sergio Moro und selbst engste Familienmitglieder Bolsonaros im Laufe der frühen Woche. Die Richterinnen und Richter des Obersten Gerichtshof (STF) hatten da bereits beschlossen, den amtierenden Präsidenten erst dann wieder zu treffen, wenn er das Wahlergebnis anerkennen würde. Der auf Bolsonaro ausgeübte institutionelle Druck – national wie international – war also von Beginn an äußerst hoch.
Bolsonaro selbst trat Dienstagnachmittag vor die Presse – für wenige Minuten und ohne direkt seine Niederlage anzuerkennen. Er verkündete nur kryptisch, immer die Werte der Verfassung hochhalten zu wollen. Übereinstimmenden Berichten zufolge hatte er da bereits seine Minister autorisiert, bei der Übergabe der Regierungsgeschäfte zu helfen.
Im Vergleich zu der Komplettverweigerung Donald Trumps bei der Anerkennung der eigenen Niederlage könnte diese Geste jedoch Hoffnung machen, dass es tatsächlich zu einem vergleichsweise problemlosen Regierungswechsel am 1. Januar 2023 kommt.
Straßenblockaden legen Brasilien lahm
Doch nicht alle im rechten Lager sind bereit, die Wahlschlappe anzuerkennen. Seit der Sieg von Lula am Sonntagabend feststand, ist es zu zahlreichen Straßenblockaden im ganzen Land gekommen. Besonders im südlichen Bundesstaat Santa Catarina, der wichtigsten Hochburg der Rechten, haben Lastwagenfahrer die Bundesstraßen versperrt, offenbar teilweise unter Duldung durch die Bundespolizei. Verschiedene Quellen belegen, dass die Proteste, die von den Medien fast einstimmig als „putschistisch“ bezeichnet werden, bereits Wochen vor dem letzten Wahlgang geplant worden waren.
Die Auswirkungen der fehlenden Lieferungen sind auch in den großen Metropolen Brasiliens, etwa in Rio oder São Paulo, zu spüren. So haben sich die Preise für Lebensmittel wie Fleisch, Fisch, Gemüse, Obst und Milchprodukte stark erhöht, mit Preisanstiegen von jeweils über 10 %. Durch die allgemeine Inflation trifft die Straßenblockade so vor allem ärmere Haushalte. Auch fehlten viele Produkte durch die künstliche Verknappung in Städten wie Sao Paulo phasenweise vollständig in den Supermarktregalen. Der Richter des STF, Alexandre de Moraes, hatte im Laufe der Woche einen Beschluss zur Räumung der Straßenblockaden verhängt.
Wie kann Lula regieren?
Für Lula wird das Regieren nicht einfach. Zum einen steht ihm die rechte Hälfte der Abgeordneten und Senatoren eher ablehnend gegenüber: Zwar hat der Präsident in Brasilien relativ viele Gestaltungsmöglichkeiten, aber vor allem die Finanzierung von Projekten hängt immer mehr von der Zustimmung von Abgeordneten ab, die vor allem an Geschenken für ihre Wahlkreise und sich selbst interessiert sind (siehe das oben erwähnte Angebot von Arthur Lira). Außerdem fehlen Lulas Regierung die finanziellen Polster vergangener Jahre, um großflächige Sozialprogramme zu finanzieren, auch wenn der staatliche Ölkonzern Petrobras durch die international stark gestiegenen Energiepreise auf Mehreinnahmen hoffen kann.
Spannend wird es bei der Zusammensetzung der neuen Regierung, an der bekanntlich nicht nur die Arbeiterpartei beteiligt sein wird. So ist etwa mit Marina Silva eine der bekanntesten Umweltaktivistinnen an die Seite Lulas zurückgekehrt, nachdem sie mit der Arbeiterpartei vor knapp zehn Jahren gebrochen hatte. Sie wird wahrscheinlich Umweltministerin werden. Ex-Präsidentin Dilma Rousseff wird nach Lulas Angaben nicht Ministerin, sondern soll Brasilien international vertreten – vor allem auch aufgrund ihrer langjährigen Erfahrungen auf dem internationalen Parket. Details zu so einem Posten sind hier noch nicht bekannt.
Eine wichtige Brücke zu möglichen konservativen Koalitionspartnern wird Vize-Präsident Geraldo Alckmin darstellen, der jetzt bereits eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen mit der Vorgängerregierung einnimmt.
Wildcard Tebet - Brasiliens nächste Präsidentin?
Die spannendste Personalie ist und bleibt aber Simone Tebet. Die im ersten Wahlgang gescheiterte Präsidentschaftskandidatin war, wie es ein Mitglied ihrer Mitte-Rechts-Partei MDB ausdrückte, einfach „die richtige Kandidatin zur falschen Zeit“. So konnte sie zwar zwischen den Schwergewichten Lula und Bolsonaro kaum eine eigene Wählerschaft aufbauen, aber ihr durchgehend kompetentes Auftreten in den Debatten überraschte Viele. Ihre engagierte Unterstützung Lulas im zweiten Wahlgang hat ihr große Sympathien über Parteigrenzen hinweg beschert – und ihr den von Lula geprägten liebevollen Spitznamen „Genossin Simone“ eingebracht. Stimmen aus der Arbeiterpartei haben direkt am Wahlabend angedeutet, dass sie sich ein Portfolio als Ministerin frei aussuchen dürfte, da ihre Rolle beim Wahlsieg so entscheidend war. Sollte Tebet dieses Angebot annehmen, dürfte sie sich wahrscheinlich das Familien- oder Gesundheitsministerium aussuchen.
Da Lula aufgrund seines Alter nur eine Amtszeit in Betracht zieht, gilt Simone Tebet zudem als eine klare Favoritin für das Amt der Staatspräsidentin nach der Wahl 2026.
Soweit war es das für diese Woche. Kommentare, Themenvorschläge oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bei Paywall-Problemen in verlinkten Artikeln stehe ich gerne mit Hilfe bereit. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!