In den kommenden Wochen möchte ich in diesem Newsletter nicht nur einen Blick nach Fernost werfen, sondern auch in Auszügen den Präsidentschaftswahlkampf in Brasilien begleiten. Neben ausführlichen Hintergründen soll es dabei auch Momentaufnahmen geben – so auch diesen kurzen Artikel, der meine Eindrücke nach der Debatte von gestern Abend zusammenfasst.
Und dieser Eindruck, der sich diesem bescheidenen Zuschauer der ersten Fernsehdebatte vor den diesjährigen Präsidentschaftswahlen aufzwingt, ist der, dass bei Ausbleiben einer größeren Überraschung der zweimalige Präsident der Arbeiterpartei (PT), Luis Inacio Lula da Silva, wieder ins Amt zurückkehren könnte.
Unter den sechs Kandidatinnen und Kandidaten, die an der Debatte teilnehmen durften, sind mit viel Großzügigkeit vier erwähnenswert. Da ist zum einen die Kandidatin Simone Tebet der rechts-zentristischen MDB, deren Partei zwar seit Jahrzehnten an Regierungen beteiligt ist und über eine nicht zu verachtende Anzahl an Abgeordneten in Senat und Repräsentantenhaus verfügt, aber für gewöhnlich aussichtslos bei der Wahl ums höchste Amt im brasilianischen Staat bleibt. Ihr größter Moment am Sonntagabend ereignete sich, als sie zur vehementen Verteidigung der Journalistin Vera Magalhães schritt, die von Amtsinhaber Bolsonaro nach einer milde kritischen Frage als eine „Schande für den brasilianischen Journalismus“ beleidigt wurde.
Zum anderen ist da Ciro Gomes, der sich als links-zentristische Alternative sowohl von Bolsonaro als auch von Lula absetzen möchte. Ciro wirkte im Rahmen seiner Möglichkeiten frisch und gefestigt. Ciro hat als ehemaliger Gouverneur von Ceará eine kleine, aber gefestigte Wählerbasis im Nordosten Brasiliens und konnte 2018 als Drittplatzierter rund 12 % der Stimmen erlangen. Als Protestkandidat für alle diejenigen, die weder den Rechtspopulisten Bolsonaro noch den von vielen verhassten Lula wählen können, wird er auch dieses Mal auf dem dritten Platz landen. Dass Gomes sich aufgrund seiner aussichtslosen Position nun auch dazu hinzureißen scheint, den mentalen Gesundheitszustand von Lula anzuzweifeln, mag als Verzweiflungstat angesehen werden, brachte ihm aber eine Verurteilung durch den Kolumnisten Leonardo Sakamoto ein, der diese Taktiken mit denen eines Donald Trump zu vergleichen wusste.
Wie ein Blick auf die Umfragen verrät, haben nur die beiden großen Namen eine ernsthafte Chance, die Wahl im Herbst zu gewinnen. Und die Debatte gestern machte deutlich, dass es in diesem Rennen einen klaren Favoriten gibt: Ex-Präsident Lula. Jair Bolsonaro sah sich von Beginn an nicht nur von seinen Gegnern in dieser Debatte mit kritischen Fragen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, bezüglich seiner zahllosen frauenfeindlichen Äußerungen und zur Armutsbekämpfung konfrontiert, sondern setzte bei der ersten Gelegenheit alles daran, die Zuschauenden, in der ihm typischen Falsett-Empörungsstimme, an die Korruption der Regierungszeit von Lula zu erinnern. Skandale rund um den staatlichen Ölkonzern Petrobras und scheinbar enge Beziehungen des Expräsidenten zu Venezuela, dem ultimativen Schreckgespenst anti-kommunistischer Politiker in Lateinamerika, wurden Lula vom derzeitigen Amtsinhaber entgegengeschleudert. Bolsonaros bereits angesprochener verbaler Ausfall gegenüber einer Journalistin war an diesem Abend die Kirsche auf einer nur schwer verdaubaren rechtspopulistischen Torte des Grauens (für den Angriff auf Vera Magalhães musste sich das Umfeld von Bolsonaro dann auch indirekt etwas distanzieren, er selbst war dazu wie erwartet nicht imstande).
Während Bolsonaro sich im konstanten Verteidigungsmodus befand, war Lula vor allem zurückhaltend. Er ignorierte die Angriffe von rechts und richtete seine Fragen an aussichtslose Kandidaten, um die Sendezeit möglichst schnell herumzukriegen – was angesichts der fast drei Stunden andauernden Debatte ein schwieriges Unterfangen war. Und so wurden die Schwächen des sozialdemokratischen Hoffnungsträgers immer deutlicher: Lula wich jeder auch noch so berechtigten Kritik aus. Der einzige Grund, warum er erneut antritt, dürfte wohl die Existenz von Jair Bolsonaro sein, der in den vergangenen vier Jahren nicht nur den demokratischen Konsens in Brasilien aufgekündigt zu haben scheint, sondern auch einen Großteil der Errungenschaften Lulas, gerade im Bereich der Sozialpolitik, rückgängig machen wollte und will.
Lulas große Leistung des gestrigen Abends war vor allem das gelingende Ausweichen. Glücklich war man, gemessen an den Reaktionen von führenden PT-Politikerinnen, vielleicht nicht; aber der Kandidat Lula scheint sich weiter als „noch gut genug“ zu bewähren. Lulas und seine Verbündeten dürften also genug Gründe haben, um lachend aus dieser Feuertaufe hervorzugehen.
Und während die Auseinandersetzungen auf der TV-Bühne zum Glück nur verbaler Art blieben, sorgten Beschimpfungen und Schubsereien zwischen einem linken Politiker und einem bolsonaristischen Ex-Minister in der Zuschauerlounge für Aufsehen.
Die Einschaltquoten waren trotz des politischen Zündstoffes erstaunlich niedrig. Viel dürfte die Debatte in der Wählerschaft nicht bewegt haben – dafür aber den Ton für einen schmutzigen Wahlkampf gesetzt haben, der seinen Tiefpunkt an diesem Sonntag wahrscheinlich noch nicht erreicht hat.