Ausblick Süd: Grabesstimmung auf Freudenfest?
Die Umfragen versagen, der Bolsonarismus transformiert sich, die Realität spaltet sich endgültig in zwei Teile.
Willkommen zurück. Heute mit einer Sonderausgabe zu den Ergebnissen der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen in Brasilien. Alle Wahlergebnisse zum Nachlesen gibt es zum Beispiel beim Portal UOL.
THE POLLING INDUSTRY is a wreck, and should be blown up.
Mit diesem scheinbar übertriebenen Satz beschrieb der Newsletter D.C. Playbook des Magazins Politico am Tag nach der US-Wahl im November 2020 den Zustand der Umfrageinsititute. Diese hatten – nach dem Desaster von 2016 – ein weiteres Mal die Zustimmungswerte von Demokraten und Republikanern in vielen Fällen falsch eingeschätzt und so Demokraten oft viel zu gute Umfragewerte in vielen wichtigen Rennen beschert.
Das Problem, dass seriöse Umfrageinstitute die Zustimmung gerade für konservative oder rechte Kandidatinnen und Kandidaten nicht korrekt abbilden können, ist aber kein rein US-amerikanisches Phänomen. Der vergangene Sonntag in Brasilien hat gezeigt, dass auch dort selbst seriöse Umfrageinstitute wie Datafolha oder Ibope die politische Stimmung in der größten Demokratie Lateinamerikas nicht vollständig abbilden können.
Folgende fünf Erkenntnisse bleiben nach dem ersten Wahlgang übrig:
Die Umfragen haben nur einseitig versagt
Was am erstaunlichsten bei den Umfragen vor der Wahl ist: Sie haben die Zustimmung für Lula (PT) und auch für eine Reihe weiterer Kandidaten relativ korrekt eingeschätzt. Lula lag im Endeffekt leicht unter den Prognosen, aber immer noch innerhalb der Fehlertoleranz. Gleiches gilt für Simone Tebet (MDB) und Ciro Gomes (PDT).
Ganz anders das Bild bei Amtsinhaber Bolsonaro. Dieser lag nach dem ersten Wahlausgang bei 43 % und damit knapp 10 Prozentpunkte über dem, was ihm die Umfragen zuvor maximal bescheinigt hatten. Perfide ist, dass Bolsonaros Behauptung, man müsse Umfragen misstrauen und er selbst achte lieber auf die Stimmung in den Straßen als auf die Umfrageinstitute – “lieber Datapovo statt Datafolha”, um ihn hier einmal unübersetzbar zu zitieren.
Noch dramatischer war das Versagen der Umfragen indes bei den übrigen Wahlen. Im Rennen um den Gouverneursposten im Staat São Paulo wurden dem PT-Kandidaten Fernando Haddad (Bolsonaros Gegenkandidat in der Stichwahl von 2018) gute Chancen und eventuell ein Sieg im ersten Durchgang bescheinigt. Stattdessen lag er abgeschlagen auf dem zweiten Platz, der Bolsonaro-Verbündete Tarcísio de Freitas liegt praktisch uneinholbar vorne und lag im Vergleich mit jüngsten Umfragen weit über den Erwartungen. Im Staat Rio de Janeiro gewann der rechte Amtsinhaber Cláudio Castro (PL) die Wiederwahl überraschend im ersten Durchgang. Er lag etwa 30 % über den Erwartungen der seriösen Institute. Ähnliche Diskrepanzen ergaben sich teilweise auch bei den Kandidatinnen und Kandidaten für das Abgeordnetenhaus und den Senat.
Der Bolsonarismus ist auch ohne Bolsonaro überlebensfähig
Das schon beschriebene erstaunlich gute Abschneiden der Bolsonaro-Verbündeten in den Rennen um Gouverneursposten, Senatssitze und Mandate im Abgeordnetenhaus zeigt ein weiteres Bild: Selbst wenn Bolsonaro nicht wiedergewählt werden sollte (seine Wiederwahl bleibt verhältnismäßig unwahrscheinlich), wird seine PL die größte Partei im Kongress sein und auch mit zahlreichen anderen Parteien aus dem rechten Spektrum koalieren können. Die rechtskonservative politische Bewegung bleibt unabhängig vom Ausgang der Präsidentenwahl eine fest in der Bevölkerung verankerte Bewegung, die auch ohne Bolsonaro überlebensfähig ist.
Und die Mehrheitsverhältnisse würden bei einem Sieg von Bolsonaro in der zweiten Runde auch dafür sorgen, dass die Justiz als letzte unabhängige Gewalt langfristig ausgeschaltet wird: Dann könnten im Senat nämlich Amtsenthebungsverfahren gegen Richterinnen und Richter des Obersten Gerichtshofs eingebracht und mit Hilfe der Exekutive auch durchgepeitscht werden.
Es gibt kein Mitte-Rechts-Lager mehr
Gerade der Erfolg der teils rechtsextremen Konservativen aus dem Lager des Präsidenten ist eine Hiobsbotschaft für die gemäßigt Konservativen in Brasilien. Die drittplatzierte Kandidatin Simone Tebet war nach eigenen Aussagen diejenige Kandidatin, die eine Alternative zwischen Lula und Bolsonaro darstellen wollte. Doch zwischen Mitte-Links und Rechtsaußen ist derzeit kein Platz für ein stabiles Mitte-Rechts-Lager. Die Tatsache, dass die traditionell starke PSDB nicht einmal einen Gouverneurs-Kandidaten zur Wahl in der alten Hochburg São Paulo schickte, spricht Bände.
Lula ist ähnlich polarisierend wie Bolsonaro
Jair Bolsonaro ist nicht der einzige Kandidat, der eine tief sitzende Ablehnung bei vielen Wählenden hervorruft. Auch Lula wirkt ähnlich polarisierend auf das Elektorat. Zwar ist er noch eher als seine Partei (PT) in der Lage, über politische Lager hinweg Sympathien und Zustimmung hervorzurufen; dennoch dürfte von den gut 43 %, die für seinen Rivalen gestimmt haben, kaum jemand Lula für überhaupt nur wählbar halten.
Sollte der PT-Kandidat nun im zweiten Durchgang gewinnen, wird er vor einer gigantischen Aufgabe stehen: Knapp die Hälfte der Wahlbevölkerung sähe ihn unversöhnlich als politischen Feind, es gäbe keinen nachhaltigen Rohstoffboom zur Finanzierung ambitionierter Sozialprogramme und im Kongress säßen ihm die Bolsonaro-Verbündeten im Nacken. Unter solchen Umständen ist ein gelingendes Regieren kaum erwartbar.
Das unrühmliche Ende des Ciro Gomes
Traurig war weniger das schlechte Abschneiden von Ciro, der bereits zum vierten Mal als Präsidentschaftskandidat antrat. Vielmehr war es seine sture Ablehnung jeglicher Kooperation mit Lula und der PT, mit denen er ideologisch eigentlich eng verwandt sein sollte. Stattdessen hatte Ciro, der 2018 noch beachtenswerte 12 % holte und für Viele eine echte demokratische Wahlalternative darstellte, Lula und Bolsonaro immer wieder rhetorisch gleichgesetzt, die PT als „nazistisch“ und „faschistisch“ bezeichnet, in den letzten Tagen des Wahlkampfes sogar Fotos von sich mit Amtsinhaber Bolsonaro in den sozialen Medien verbreitet. Als sich die Führung seiner Partei PDT am Dienstag dann einstimmig dazu entschied, Lula im zweiten Wahlgang zu unterstützen, konnte Ciro in einer kurzen Videoansprache nicht einmal den Namen des Ex-Präsidenten in den Mund nehmen. Genützt hat ihm der rhetorische Schwung nach recht übrigens gar nichts: Dieses Mal landete Ciro bei rund 3 % und damit noch deutlich hinter Simone Tebet, die sich als völlig unbekannte Kandidatin besonders in den Debatten stets positiv hervortat.
Die zweite Runde der Präsidentschaftswahl findet dann am 30. Oktober statt.
Zur Einschätzung der aktuellen Situation in Brasilien war ich auch im tagesaktuellen Podcast “Zurück zum Thema” bei detektor.fm zu Gast. Hier gibt es die Folge zum Nachhören:
Und hier gibt es meinen Blog-Artikel, der vor der Wahl bei Polis180 erschienen ist.
Soweit war es das für diese Woche. Die nächste Ausgabe erscheint am kommenden Freitag. Kommentare, Themenvorschläge oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bei Paywall-Problemen in verlinkten Artikeln stehe ich gerne mit Hilfe bereit. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!