Ausblick Extrablatt - Pachinko
Zu Ostern lesen wir "Pachinko" von Min Jin Lee. Den nichtssagenden deutschen Titel verschweigen wir dabei.
“Die Geschichte hat uns im Stich gelassen, aber was macht das schon.”
- Min Jin Lee
Die beiden Ausgaben, Deutsch und Englisch:
Ein einfaches Leben. Von Min Jin Lee. Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Höbel. dtv Literatur, 552 Seiten; 13,90€ [E-Book 10.99€].
Pachinko. By Min Jin Lee. Grand Central Publishing, 505 pages; ebook 5.99€.
Die Geschichte kann unfreundlich sein, nicht nur zu Nationen oder Ideen. Sie kann geradezu grausam sein zu denjenigen Gruppen, die zwischen ihnen gefangen sind. Und wenn niemand in diesen Gruppen daran interessiert ist, diese Grausamkeiten der Geschichte zu bewahren, werden die Erlebnisse von den meisten Historikerinnen kaum beachtet werden.
Pachinko, der zweite Roman der amerikanischen Schriftstellerin Min Jin Lee, versucht die Nöte genau einer solchen Gruppe aufzuzeigen. Die Erzählung folgt der Geschichte einer von äußeren Umständen geprägten koreanischen Familie über mehrere Generationen. Sie beginnt im äußersten Süden der von Japan besetzten Halbinsel im Jahre 1910 und endet im japanischen Yokohama Ende der 1980er Jahre.
Jeder, der mit ostasiatischer Geschichte vertraut ist, erkennt zumindest im ersten Datum eine klare Bruchstelle in der koreanischen Geschichte. Japan befand sich kurz vor dem ersten Weltkrieg auf der Höhe eines neu gewonnen globalen Prestiges. Gewonnene Kriege gegen das russische Zarenreich und gegen den scheinbar unbesiegbaren Nachbarn China hatten das von Japan kontrollierte Gebiet in Ostasien stark ausgedehnt. So gehörten Teile des heutigen Festlandchinas, Taiwan und die Hälfte der Insel Sachalin inzwischen zum Kaiserreich der aufgehenden Sonne. Russlands schwindender Einfluss machte sich vor allem auch in Korea bemerkbar.
Die Geburt von Sunja, der Hauptfigur und heimlichen Matriarchin der Familie, ereignet sich im Jahr der Annexion. Geboren als Tochter eines Fischers und einer Gastwirtin, erlebt sie hautnah die politischen Veränderungen in ihrer Heimat. Nach dem frühen Tod des Vaters beginnt eine schwere Zeit für Sunja, die sich schließlich in den koreanischen Geschäftsmann Koh Hansu verliebt. Dieser ist durch windige Geschäfte in Japan reich geworden ist. Was sie nicht weiß: er hat bereits eine japanische Familie. Außerdem ist er als Yakuza und skrupellos.
Zu diesem Zeitpunkt, in den 1930er Jahren, hat sich die politische Lage in Ostasien zugespitzt. Während im Westen der Konflikt noch gefühlt in weiter Ferne liegt, hat der Zweite Weltkrieg in Asien bereits begonnen durch Japans Überfall auf China. Sunja wird derweil ungewollt schwanger. Da ihr Liebhaber Koh Hansu seine Erstfamilie nicht verlassen möchte, ist sie auf die Nächstenliebe eines christlichen Pastors aus dem Norden Koreas angewiesen, der auf dem Weg nach Japan im Gasthaus der Familie untergekommen ist. Er heiratet Sunja und die beiden reisen, so wie tausende andere Koreanerinnen zu der Zeit, gemeinsam nach Japan, wo sie sich ein einfacheres Leben erhoffen. Als klare Außenseiter gelingt ihnen dies nur ansatzweise und sie sind einer tiefgreifenden Diskriminierung durch die japanische Mehrheitsgesellschaft ausgeliefert.
Die Polizei wusste nicht, dass er ein Koreaner war, denn Yosebs Auftreten und Kleidung hätten ihn nicht verraten. Die meisten Japaner behaupteten, sie könnten zwischen einem Japaner und einem Koreaner unterscheiden, aber jeder Koreaner wusste, dass das Unsinn war. Man konnte jeden nachahmen.
Die Ankunft im geschäftigen Osaka jener Zeit erscheint nach den Neuankömmlingen wie der Eintritt in eine neue Welt. Zum ersten Mal sieht Sunja nun etwa arme Japanerinnen. In ihrer bisherigen Welt waren die Kolonialherren allesamt reich und wohlgenährt. Der nahende Pazifikkrieg und der Atombombenabwurf wird die japanische Bevölkerung grundlegend verändern und auch für Sunjas Familie ein einschneidendes Erlebnis bleiben.
Ihre beiden Söhne wird Sunja Noa und Mozasu nennen, der christliche Einfluss wird in der Namensgebung offensichtlich. Der ältere Sohn, Noa, wird an der Universität studieren. Als er jedoch die Identität seines leiblichen Yakuza-Vaters entdeckt, bricht er den Kontakt zur Familie vollständig ab. Unter neuer Identität arbeitet er in der japanischen Provinz der Nachkriegszeit in einem Pachinko-Salon. Der jüngere Mozasu eröffnet derweil seinen eigenen Pachinko-Salon in Osaka und erlangt Wohlstand. Sein Sohn Solomon, eigentlich ein erfolgreicher Banker in der Bubble Economy der 1980er Jahre, verliert schließlich seine Anstellung, vermutlich aufgrund seiner ethnischen Herkunft. Auch ihm scheint in Japan nur eine Karriere im Glücksspiel offenzustehen.
Gefangen in der Pachinko-Falle
Der englische Titel des Romans ist bewusst gewählt. Min Jin Lee hat für die Recherche mehr als ein Jahrzehnt Interviews mit Menschen in Südkorea, Japan und den USA geführt. Besonders in Japan ist ihr dabei ein wiederkehrendes Motiv aufgefallen (meine Übersetzung):
Fast jede koreanisch-japanische Person, die ich in Japan traf, hatte irgendeine historische oder soziale Verbindung zum Pachinko-Geschäft - einem der wenigen Geschäfte, in denen Koreaner Arbeit finden und eine Beteiligung haben konnten [...] Sie haben vielleicht einen Verwandten, der kurz in einem Salon gearbeitet hat, oder einen Onkel, der alles in einem gescheiterten Pachinko-Geschäft verloren hat.
Pachinko, das in der Praxis einzige legale Glücksspiel in Japan neben bestimmten Wetten, ist weitgehend unbekannt außerhalb des Landes und ist im Ansatz vielleicht mit einem Geldspielautomaten vergleichbar, den man wie einen Flipperautomaten bedient. Jeder, der schon einmal durch eine japanische Innenstadt gelaufen ist, kennt den erdrückenden Lärm der Maschinen in den Salons, der Passantinnen in die Ohren dringt, wenn sich die Türen in diese Parallelwelt einmal kurz öffnen. Die wie gebannt stundenlang vor den Automaten sitzenden Geschäftsmänner und Hausfrauen sind ein in gleicher Weise faszinierender wie bedrückender Anblick.
Pachinko ist dabei eine der wichtigsten Zweige der japanischen Wirtschaft. Das Geschäft mit den Automaten erwirtschaftet jedes Jahr doppelt so viel Umsatz wie die Autonidustrie mit ihren Exporten verdient. Denoch bleibt Pachinko marginalisiert, die meisten Japanerinnen verbinden damit das organisierte Verbrechen der Yakuza und, in den Augen vieler Japaner noch viel schlimmer, die Präsenz der ausgegrenzten Zainichi (wörtlich übersetzt In Japan Lebende), der seit Generationen in Japan lebenden Koreaner.
Nur wenige der Zainichi haben übrigens die Möglichkeit, die japanische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Lee zeigt dies durch eine geradezu kafkaeske Szene, die sich an Solomons vierzehntem Geburtstag abspielt. An diesem Tag ist er verpflichtet, in einem Gemeindebüro in Yokohama eine Aufenthaltsgenehmigung für Japan zu beantragen – dem Land, in dem er geboren und aufgewachsen ist, dessen Sprache die einzige Muttersprache für ihn ist. Die unfreundliche Beamtin besitzt in dieser Situation die vollständige Kontrolle über Solomons fortgesetzten Aufenthalt in seinem Geburtsland. Für die meisten Zainichi ist das aber ganz alltäglich, wie Vater Mozasu seiner japanischen Lebensgefährtin im Anschluss erläutert:
“Die Beamtin hat sich nicht geirrt. Und das ist etwas, das Solomon verstehen muss. Wir können deportiert werden. Wir haben kein Mutterland. Das Leben ist voll von Dingen, die er nicht kontrollieren kann, also muss er sich anpassen. Mein Junge muss überleben.”
Die Szene, aus meiner Sicht die wichtigste der gesamten Geschichte, spielt sich in den 1980ern ab, könnte sich aber theoretisch genauso heute ereignen. Die meisten Zainichi bleiben rechtlich betrachtet Ausländerinnen in Japan. Aufgrund der komplexen Beziehungen der Diaspora zu den beiden koreanischen Staaten – viele koreanische Japanerinnen besitzen etwa die nordkoreanische Staatsbürgerschaft – gibt es auch wenig Bestrebungen etwa von Südkorea, ihre Situation zu verbessern.
Dem Roman ist es anzumerken, dass die Autorin Jahrzehnte lang recherchiert hat. Wie Lee selbst sagt, war die erste Fassung schon fast zu Beginn fertig. Als ihr dann auffiel, dass es sich dabei aber praktisch um eine reine Kampfschrift handelte, die alleine das Leid der koreanischen Diaspora im reichen Nachbarland darstellte, wurde sie stutzig. Das Ergebnis ist eine gelungene Übung in genauer Beobachtung, Empathie und Menschenkenntnis. Marginalisierte Gruppen nehmen weiterhin die Hauptrolle ein. Lee beleuchtet aber neben der Situation der Zainichi genauso eindrucksvoll, wie die oft rigide japanische Gesellschaft auch scheinbare Insider an den Rand drängt. Das gilt sowohl für die geschiedene Frau, den heimlich homosexuellen Polizisten oder die alleinerziehende Mutter eines geistig behinderten Sohns. Das an Tolstoi erinnernde Eingangsmotto – Die Geschichte hat uns im Stich gelassen, aber was macht das schon – lässt sich auch auf diese Personen ausweiten und das Ergebnis ist sicherlich einer der bemerkenswertesten Romane der Gegenwart. In vielen amerikanischen High Schools und Universitäten ist Pachinko inzwischen Standardlektüre.
Min Jin Lees eigene Familiengeschichte ist ebenfalls von Migration geprägt, wenn auch von Korea nach Amerika. Wie ihre Biographie mit der der Zainichi verbunden ist und was all dies in Zeiten von wachsendem Fremdenhass in den USA und Europa aussagt, zeigt sich auch in folgender Rede, die Lee nach Einführung des berüchtigten “Travel Ban” der damals neuen Trump-Regierung am MIT Center for International Studies gehalten hat. Durchaus kurzweilig und ausschweifend, besonders im Q&A-Teil.
Auch lesenswert: Lees unregelmäßig erscheinende Gastbeiträge in Zeitschriften und Zeitungen, etwa dieser Kommentar vom letzten Jahr in der New York Times, als gerade die Corona-Pandemie New York erfasst hatte.
Zur Vertiefung: Hier gibt es noch ein Interview mit der Autorin in der Chicago Review of Books.
Wie angekündigt möchte ich nächste Woche allgemeine Quellen aufführen, die mir bei meiner Recherche in den letzten Monaten aufgefallen sind: Websites, Personen, Bücher, Podcasts. Die Idee ist dabei, eine nach Ländern geordnete Übersicht über sinnvolle Informationsquellen über Politik und Gesellschaft in Ostasien zu schaffen. Der Beitrag soll dann online laufend aktualisiert werden und eine Art Datenbank für Interessierte darstellen. Vielen Dank für die schon eingegangenen und wirklich hilfreichen Ideen!
Soweit war es das für diese Woche. Kommentare, Themenvorschläge oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bei Paywall-Problemen in verlinkten Artikeln stehe ich gerne mit Hilfe bereit. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!