Ausblick Extrablatt: Japan nach der Wahl
Die Wahlen zum japanischen Oberhaus waren von dem tötlichen Attentat auf Abe Shinzo geprägt. Eine erste Analyse.
Willkommen zurück. Bevor wir in der kommenden Woche mit dem dritten Teil der Sommerreihe zum Tokyoter Kriegsverbrechertribunal fortfahren, gibt es heute eine Sonderausgabe zur Oberhauswahl, die am vergangenen Sonntag in Japan stattfand.
Oberhauswahlen 2022: Was wichtig gewesen wäre
Die Wahlen zum Oberhaus hätten eigentlich eine Reihe von Tendenzen in der japanischen Politik aufzeigen können. Wie zufrieden sind die Menschen mit dem seit letzten Herbst regierenden Premierminister Kishida Fumio? Was für eine Auswirkung hatte der russische Angriff auf die Ukraine? Wie relevant ist bei dieser Wahl die neue Außen- und Sicherheitspolitik tatsächlich? Und könnte die plötzlich zurückgekehrte Inflation und die eigensinnige Zinspolitik der Zentralbank der LDP-Regierung doch noch einen Strich durch die Rechnung machen?
Auch war vor der Wahl zu erkennen, dass viele LDP-Granden durch umkämpfte Wahlbezirke gereist sind, um die Kandidatinnen und Kandidaten der Regierungspartei anzuschieben und knappe Wahlausgänge in einigen Städten doch noch zu verhindern. Premier Kishida reiste zum Beispiel nach Okinawa und war damit der erste Regierungschef seit neun Jahren, der sich in eine der stärksten Oppositionshochburgen wagte.
Doch all diese Ereignisse und Einflüsse dürften für die wenigsten Wählenden am vergangenen Sonntag eine ernsthafte Rolle gespielt haben. Vielmehr hat die Ermordung von Langzeitpremierminister Abe Shinzo zwei Tage vor dem Urnengang die Ausgangslage grundlegend verändert. Abe, nach seinem Rücktritt 2020 weiterhin der einflussreichste Politiker in der LDP und in Japans politischer Landschaft überhaupt, wurde bei einem Wahlkampfauftritt im westjapanischen Nara von einem 41-Jährigen mit einer selbstgebauten Schusswaffe angeschossen und starb anschließend an den Verletzungen im Krankenhaus. Japan hat die vielleicht strengsten Waffengesetze in der entwickelten Welt (daher wohl die Notwendigkeit zum Eigenbau) und es gab bis auf ein paar prominente Ausnahmen kaum Anschläge auf Politikerinnen und Politiker seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
(Ich bereite gerade einen Nachruf auf Abe vor. Mehr über seine streitbare Rolle dann in den kommenden Tagen.)
Entgegen dem Trend der vergangenen Jahre stieg dann auch die Wahlbeteiligung auf knapp über 50 %. Und entgegen der gewöhnlichen Tendenz, dass die konservative LDP vor allem von einer geringen Wahlbeteiligung profitiert, dürfte es dieses Mal genau umgekehrt gewesen sein. Die Partei von Premierminister Kishida, einem politischen Ziehsohn von Abe, konnte ihre Mehrheit im Oberhaus, der systemisch weniger wichtigen Kammer des nationalen Parlaments, ausbauen. Die absolute Mehrheit nach Sitzen erreicht die LDP nun auch ohne den buddhistischen Juniorpartner Komeito. Zusammen verfehlen die beiden Koalitionsparteien jedoch auch weiterhin die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit knapp.
Bemerkenswert ist dabei, dass die LDP trotz der hören Anzahl gewonnener Mandate anteilig weniger Prozent der Stimmen erreichte als bei der letzten partiellen Oberhauswahl 2019. Insgesamt kam sie nur auf ein gutes Drittel der Stimmen und erreichte dennoch mit alten und neuen Mandaten eine absolute Mehrheit. Hierfür sind die Ursachen auch im Wahlsystem zu suchen, welches Einzelwahlkreise und proportionelle Listen für die Sitzverteilung vorsieht.
Und auch, wenn sich aus dem Ergebnis nur bedingt eine Erkenntnis über die derzeitige politische Situation in Japan ziehen lässt, bleiben aus meiner Sicht vier interessante Entwicklungen festzuhalten:
Neben der LDP (119 Sitze im Oberhaus) gibt es keine weitere überregionale Partei in Japan. Weder die linksliberale Konstitutionell-Demokratische Partei (KDP) mit ihren 27 Mandaten noch die rechtspopulistische Nippon Ishin no Kai (21 Sitze) scheint über eine ausreichende Infrastruktur zu verfügen, um Kandidatinnen und Kandidaten im ganzen Land erfolgreich aufzustellen. Während die KDP vor allem in urbanen Zentren Sitze erhalten konnte, bleibt Ishin eine Kansai-Regionalpartei mit ihrem Machtzentrum in Osaka. Auch ein einzelnes Mandat, welches Ishin in der Metropolregion Tokyo erreichen konnte, sollte über diese Erkenntnis nicht hinwegtäuschen. Dennoch konnten vor allem aus den Reihen der Opposition besonders viele Frauen ein Mandat gewinnen.
Die LDP konnte in der Oppositionshochburg Okinawa ganz im Süden zwar kein Mandat erlangen, jedoch deutlich an Zuspruch gewinnen. Der Wahlkampfauftritt von Premier Kishida hat dabei vielleicht auch geholfen: der Kandidat der vereinten Opposition, Iha Yoichi, konnte zwar seinen Sitz im Oberhaus verteidigen. Der Abstand zum zweitplatzierten LDP-Kandidaten ist jedoch von 64.000 Stimmen auf gerade noch rund 3.000 geschrumpft. Spannend hierbei: die in der Vergangenheit dominierende Ablehnung der Bevölkerung Okinawas gegen die dort omnipräsente US-Militärbasis (deren Fortbestehen die LDP vehement verteidigt) scheint kein großes Mobilisierungspotenzial für die Opposition mehr zu bieten.
Aufgrund der fehlenden Zweidrittelmehrheit wird es für die LDP schwierig, die angestrebten Verfassungsänderungen durchzusetzen und die Pazifismus-Klausel in Artikel 9 zu kippen. Die pazifistisch eingestellte Komeito hatte solche Bestrebungen in der Vergangenheit bereits blockiert und dürfte weiterhin ein Hindernis für Kishida darstellen.
Eine interessante Entwicklung lässt sich aber auch auf der linken Seite des Parteienspektrums erkennen: die Kleinstpartei Reiwa Shinsengumi, die sich die Inklusion verschiedener Gruppen in die japanische Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben hat, konnte noch einmal drei Mandate dazugewinnen und verfügt nun über fünf Abgeordnete im Oberhaus. Die stärker werdende Präsenz der Partei zumindest in einer Kammer des Parlaments scheint ein Trend zu werden.
Fazit
So werden wir, auch aufgrund der Ermordung Abes, eine Debatte um die Verfassungsänderung in den kommenden Monaten beobachten können: wird die LDP das Lebensprojekt von Abe, Japan auch wieder zu alter „militärischer Größe“ zurückzuführen, nach seinem Tod tatsächlich umsetzen können? Eventuell ließe sich eine politische Mehrheit im Parlament auch mithilfe anderer Parteien realisieren. Die öffentliche Meinung steht seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs so stark wie selten hinter einer solchen Initiative. So zynisch es nun auch erscheinen mag: die Ermordung Abes und die tendenziell konsolidierte Mehrheit der LDP könnten nun darauf hindeuten, dass Abes Traum doch noch zur Realität werden könnte.
Gleichzeitig wird die Ermordung Abes auch den Verlauf zukünftiger Wahlkämpfe in Japan prägen. Ob prominente Politikerinnen weiterhin spontane Reden vor Menschengruppen etwa in Innenstädten oder vor Bahnhöfen halten werden, bleibt abzuwarten. Die Ordnung, die sich seit der Redemokratisierung nach 1945 etabliert hat, ist ins Wanken geraten. Die politische Gewalt der vergangenen Woche weckt bei Vielen die kollektive Erinnerung an die 1930er Jahre, als die wiederholte Ermordung von Politikern normaler erschienen.
Soweit war es das für diese Woche. Weitere Ausgaben werden demnächst erscheinen. Kommentare, Themenvorschläge oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bei Paywall-Problemen in verlinkten Artikeln stehe ich gerne mit Hilfe bereit. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!