Ostasien ist in den letzten Jahrzehnten zu einem Hotspot der internationalen Politik geworden: ideologische Gegensätze, enormes Wirtschaftswachstum, ein hoher Grad der Militarisierung und die popkulturelle Anziehungskraft von Ländern wie Südkorea oder Japan prägen die Region in den Augen der Welt. Doch ein wesentlicher Aspekt der politischen Geographie Ostasiens sollte für eine genauere Betrachtung noch mehr im Mittelpunkt stehen: die fragilen Grenzen zwischen den Nationalstaaten. Gerade maritime Hoheitsgebiete oder auch die Zugehörigkeit vieler unbewohnter Inseln sind bis heute immer wieder Gegenstand zwischenstaatlicher Konflikte. In der Reihe „Fragile Grenzen“ sollen im Laufe dieses Jahres einzelne Konflikte vorgestellt und in einen historisch-politischen Kontext eingebettet werden.
Den Start macht nun, weil auch vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs in der Ukraine relevant, die andauernde Auseinandersetzung zwischen Russland und Japan über die von Russland verwaltete Inselgruppe der „südlichen Kurilen“, die in Japan „nördliche Territorien“ genannt werden.
Siehe zu diesem Thema auch Ausblick 2022/08 zur aktuellen Auseinandersetzung zwischen Japan und Russland.
Vorgeschichte
Wie schnell sich Japan bereits modernisiert hatte, war vielen europäischen Beobachtern gegen Ende des 19. Jahrhunderts nur in Ansätzen bekannt beziehungsweise wurden die Entwicklungen nicht als übermäßig bedeutsam eingestuft. Dabei war der Wandel, den Japan seit der Meiji-Restauration nach 1868 vollzogen hatte, erstaunlich: aus einem überwiegend agrarischen Staat, in dem vor allem die regionalen Domänen Kontrolle über die Geschicke ihrer verstreuten Besitztümer ausübten und der Kontakt mit der Außenwelt auf bestimmte Häfen und Handelspartner begrenzt war, konnte wenige Jahrzehnte nach Ankunft der amerikanischen Kurofune (der “schwarzen Schiffe”) trotz zahlreicher unvorteilhafter Handelsverträge mit westlichen Staaten ein moderner Industriestaat entstehen.
Die Elite des neuen Staates, in den ersten Jahren vor allem aus den ehemaligen Samurai-Domänen Satsuma und Choshu gespeist, schickte Reisegruppen nach Nordamerika und Europa, um von westlichen Staaten und Universitäten zu lernen. Einer der ersten Anlaufpunkte waren aufgrund der gemeinsamen Handelsgeschichte die Niederlande, deren Sprache Mitte des 19. Jahrhunderts viele Vertreterinnen der japanischen Oberschicht als einzige europäische Sprache beherrschten. Doch auch die USA, Frankreich und Preußen boten nachahmenswerte Modelle für das Japanische Kaiserreich. Bis heute lässt sich zum Beispiel in der japanischen Rechtstradition der Einfluss des französischen und deutschen Rechts erkennen, etwa im japanischen Strafgesetzbuch von 1907. Während viele französische Einflüsse für die japanischen Staatsdenker um die Jahrhundertwende zu liberal waren, war das deutsche Vorbild nicht nur aufgrund seiner deutlich autoritäreren Strukturen für Meiji-Japan attraktiver. Auch die starke Militarisierung Preußens fand Anklang in japanischen Regierungskreisen. Eine allgemeine Wehrpflicht für männliche Staatsbürger und der verstärkte Fokus auf dem „nationalistischen Projekt“ ebneten den Weg für neue ideologische Wege.
Doch: wozu eine Armee aufbauen, wenn man diese nicht auch einsetzen wollte? Um den wachsenden Bedarf an Rohstoffen und Absatzmärkten zu sättigen, bewegte sich der Blick Tokyos immer mehr über die Grenzen der japanischen Inseln hinaus.
Während die „Japanisierung“ des Königreichs Ryukyu (heute die Präfektur Okinawa) verhältnismäßig konfliktfrei verlief und die Integrierung von Hokkaido vor allem über Handelsstützpunkte und sogenannte „Pioniersiedler“ erfolgte, scheute das hochgerüstete Japan auch den Konflikt mit scheinbar übermächtigen Staaten immer weniger. Der Sieg Japans im Sino-Japanischen Krieg von 1894-95 war eine weitere Schwächung für die in ihrer Handlungsunfähigkeit versinkenden Qing-Dynastie. So wurde durch den Friedensvertrag von Shimonoseki – der übrigens zwischen der chinesischen und japanischen Seite auch durch kalligraphische Schriftgespräche in traditionellen chinesischen Gedichten ausgehandelt wurde – die Kontrolle Japans über die Insel Taiwan besiegelt.
Dies sollte bis 1945 so bleiben und bedarf sicherlich nochmal einer genaueren Untersuchung als in diesen Zeilen möglich.
Der Konflikt mit dem zaristischen Russland
Trotz der immer stärkeren imperialen Bestrebungen Japans in Asien war gerade auch Tokyo ein wichtiger Anlaufpunkt für Exilanten, deren radikale Ideen die großen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts maßgeblich beeinflussen würden. Dazu gehört unter anderem auch Sun Yat-sen, dem Gründervater der Republik China nach der Revolution von 1911. Zudem galt der Erfolg Japans in vielen Teilen der nicht-europäischen Welt als Beweis, dass es eine Alternative zur westlich geprägten Moderne geben könnte.
Der schnelle Sieg Japans gegen das kaiserliche China war zwar ein Zeichen dafür, wie weit die Modernisierung des japanischen Staates bereits vorangeschritten war. Doch erst der Ausbruch des Russisch-Japanischen Krieges von 1904-05 zeigte, dass auch ein nicht-europäisches Land in einem modernen Krieg gegen eine “europäische” Macht bestehen konnte. Die gegensätzlichen Ansprüche, die Tokyo und Moskau bezüglich der koreanischen Halbinsel und weite Teile der Mandschurei stellten, führten schließlich zum Krieg.
Tatsächlich war Japan durch die geographischen Verhältnisse gegen die auf Nachschub angewiesenen zaristischen Armee überlegen. Doch auch die moderne Ausrüstung, die taktische Kriegsführung und die erprobte japanische Armee führten zu einem relativ schnellen Sieg.
Russland war, milde ausgedrückt, vollkommen überrascht von der japanischen Übermacht. Die zahlreichen Neuordnungen der Besitzansprüche durch den Vertrag von Portsmouth führten auch dazu, dass die Insel Sachalin offiziell zur Hälfte unter japanische Kontrolle geriet.
Nach dem Krieg
Zahlreiche kleinere Inseln, darunter auch die heute vollständig russisch verwalteten Kurilen, waren zum Zeitpunkt des japanischen Sieges bereits in Teilen “japanisiert”. Dies gilt auch für den südlichen Teil des Kurilen-Archiepels. Zwar hatte die Besiedlung der ursprünglich von der indigenen Gruppe der Ainu besiedelten Inseln auch ab der Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen. Allerdings nahm die Expansion des japanischen Kaiserreichs nun noch einmal an Intensität zu. So gerieten auch die nördlichen Kurilen, bis dahin russisch, unter japanische Kontrolle.
Die japanische Administration dieser Inseln blieb trotz wiederholter Auseinandersetzungen zwischen Japan und der neu gegründeten Sowjet-Union in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ohne Veränderungen. Erst nach der sowjetischen Kriegserklärung gegen Japan am 8. August 1945 und der nach den Atombombenabwürfen der Amerikaner unumgänglich gewordenen Kapitulation Japans begann Russland, auch die südlichen Kurilen zu verwalten. Völkerrechtlich gab es nie eine Einigung über den Status der drei südlichsten Inseln.
Das Ende der japanischen Kontrolle nach 1945
Der Vertrag von San Francisco, der auch als eine Art Friedensvertrag zwischen Tokyo und Moskau hätte dienen sollen, brachte ebenfalls keine Klärung des Sachverhalts. Japan bestätigte zwar durch seine Unterzeichnung, dass es “jegliche Ansprüche” über die Inselkette aufgeben wollte; allerdings hatte die Sowjetunion den Vertrag von San Francisco nie unterschrieben und somit nie für offiziell gültig angesehen.
Da Moskau das als Friedensvertrag ausgelegte Dokument nie unterzeichnet hat, befanden sich Japan und Russland formell gesehen weiter im Krieg. In der Mitte der 1950er Jahren wurden die bilateralen diplomatischen Beziehungen allerdings wieder hergestellt.
Die Frage der Souveränität über die südlichen Inseln des Archipels blieb über den gesamten Verlauf des Kalten Krieges ungelöst. Dennoch ist die Frage weiterhin eine drängende Angelegenheit für nationalistische Kreise in Japan und vor allem auch für die Führungsriegen der Regierungspartei LDP.
Abes persönliche Diplomatie versandet – ein vorläufiges Fazit
Als Premier Abe Shinzo schließlich 2012 zum zweiten Mal das Amt des japanischen Premierministers übernahm, sah er sich in der Lage, eine enge persönliche Beziehung mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin aufzubauen und in den folgenden Jahren eine Art „Onsen-Diplomatie“ zu führen.
Doch ebenso wie die sich verhärtenden Fronten im Kalten Krieg stellte auch für Abe ab 2014 die Weltpolitik ein wachsendes Hindernis dar: die russische Annexion der Krim legte jegliche friedlichen Verhandlungen mit dem Kreml auf Eis; drängendere innen- und außenpolitische Fragen in den Folgejahren sowie Abes Rückzug aus dem Amt im Jahr 2020 ließen eine Lösung der Kurilen-Frage immer weiter in den Hintergrund rücken. Nach der völkerrechtswidrigen Invasion der Ukraine durch Russland Anfang 2022 verhängte auch Japan umfangreiche Sanktionen gegen Russland. Daraufhin hat Russland im März 2022 die offiziellen Friedensverhandlungen mit Japan, die auch den Status der südlichen Kurilen endgültig bestimmt hätten, für beendet erklärt. Japan hat in seinem Diplomatischen Jahresbuch in diesem Jahr die russische Annexion nun offiziell als „illegale Besatzung“ bezeichnet.
Abes Nachfolger, Premierminister Kishida Fumio, zeigte in seiner bisherigen Regierungszeit deutlich mehr Gespür für die Bedürfnisse der Realpolitik und verliert sich – trotz der starken nationalistischen Strömungen in seiner Partei – nicht in Tagträumen über die Rückeroberung von letztendlich strategisch unbedeutenden Inseln.
Spätestens durch Russlands Angriffskrieg in der Ukraine und die Aufkündigung der Verhandlungen durch die russische Seite scheinen die Kurilen einmal mehr aus dem Fokus der japanischen Außenpolitik zu verschwinden.
(Danke an Charlie für den Themenvorschlag)
Auch der Blick auf die Quellenarbeit lohnt sich, hier wurden einige Updates hinzugefügt.
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