Ausblick Extrablatt - Die Ladenhüterin
Ein Convenience Store, eine gähnende innere Leere und eine quasi-religiöse Erweckung erwarten die Leser im Roman von Murata Sayaka. Eine Rezension.
Die Ladenhüterin. Von Murata Sayaka. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Aufbau Verlag, 146 Seiten. Preis: 7,99€ (als digitales e-pub) oder 10€ (als Taschenbuch).
Wir sind weiterhin in der Sommerpause des Newsletters. Wie versprochen wird es aber bis Ende August einige Extrablätter geben. Diese Woche steht dabei der Roman “Die Ladenhüterin” der japanischen Autorin Murata Sayaka im Mittelpunkt.
Da ich diese Woche bei einem internen Buchclub von Polis180 teilnehmen konnte, bei dem auch die Übersetzerin Ursula Gräfe eingeladen war, werde ich zudem auf einige bei der Veranstaltung diskutierte Themen zu sprechen kommen.
Eine Geräuschkulisse baut sich direkt auf der ersten Seite auf: der glockenhafte Ton der sich automatisch öffnenden Tür; die Lautsprecherdurchsagen, die auf neue Produkte hinweisen; die Stimme des Kassierers, der die Kunden in einem übertrieben freundlichen Ton begrüßt und die gekauften Onigiri, Asahi-Bierdosen und Soft Drinks schwungvoll in weiße Plastiktütchen verpackt.
Die geneigte Leserin betritt mit Beginn der Lektüre praktisch den Konbini persönlich. Die Beschreibung der Geräusche und anderer sinnlicher Eindrücke, die einen beinahe überwältigen in diesem kleinen sterilen Paradies des Konsums, erwecken den Eindruck, dass es sich bei beim Convenience Store (oder japanisch Konbini) um einen lebenden, atmenden Organismus handelt.
Dieser Eindruck wird sicherlich auch durch die Erzählperspektive der Hauptfigur, der Mittdreißigerin Keiko, verstärkt. Seit über zehn Jahren als Aushilfe im gleichen Konbini festhängend, dreht sich ihr ganzes Leben um den stark reglementierten Mikrokosmos des Geschäfts: der Morgenappell vor Dienstantritt ist wie ein Gebet für sie, das Einräumen des Inventars ist ihr Beitrag zum Überleben des Marktes und jeder Fremdkörper, der dieses symbiotische Gleichgewicht gefährdet, wird vom Konbini logischerweise durch Antikörper ausgeschieden.
Keiko ist eine Hauptfigur, die man nur schwer liebgewinnen kann. Ihr Denken erscheint oft verquer, ihre Aufopferung für diesen Laden unverständlich. Doch je mehr wir in ihre Vergangenheit eintauchen, desto eher können wir als Leser nachvollziehen, warum sie sich in den Konbini zurückgezogen hat.
Da sind die Erwartungen der Gesellschaft und ihrer Familie. Warum ist sie nicht so wie die anderen Kinder? Warum zeigt sie keine Emotionen? Wie soll sie so nur einen richtigen Job finden? Und am wichtigsten: wie kann Keiko einen Mann finden, heiraten und endlich Kinder bekommen? Die biologische Uhr tickt schließlich jedes Jahr schneller.
Solche gnadenlosen Vorstellungen findet man sicherlich auch in Deutschland. Auch hier existieren schließlich überkommene Rollenbilder von der Frau, die so schnell wie möglich für Nachwuchs sorgen soll und dann gefälligst zuhause bleiben muss, während der Mann die sprichwörtliche Beute nach Hause bringt. Frauen und auch Männer in ostasiatische Länder wie Südkorea und Japan sind jedoch noch deutlich stärker mit diesen Vorstellungen konfrontiert. Ein Blick auf Untersuchungen der OECD untermauern diese Behauptung: fehlende Kinderbetreuung verhindert den Wiedereintritt ins Arbeitsleben, Teilzeitarbeit wird für Frauen in der Ehe steuerlich besser gestellt als Vollzeitarbeit, unbezahlte Überstunden bleiben trotz neuer Gesetze die Norm.
Keiko kennt die Erwartungen, die alle an sie als Frau zu haben scheinen. So versucht sie sich vor der Gesellschaft zu verstecken, in ihrem Konbini und der schweren körperlichen Arbeit, die ihr Jahr für Jahr mehr zu schaffen macht.
Die Ladenhüterin hat, nicht nur wegen der verspielten Dekonstruktion antiker Rollenbilder, eine breite Rezeption in Japan erfahren. Dabei lässt sich die Geschichte auf unterschiedlichste Weise interpretieren. Als Kritik an der hyperkapitalistischen Gesellschaft, die den Aufstieg der 24-Stunden-Supermärkte überhaupt erst ermöglicht hat. Als Analyse der Geschlechterbeziehungen, die sich laut einem der anderen Charaktere des Romans seit der Jomon-Zeit (man denke an Jäger und Sammler) nicht verändert haben. Oder als Geschichte einer einzelnen Person, die die fragwürdigen Ansprüche einer inhaltsleeren Gesellschaft ablehnt und ihren eigenen Pfad wählt.
Übersetzerin Ursula Gräfe hat auf Nachfrage von der Schwierigkeit gesprochen, die Nuancen des Romans ins Deutsche zu übertragen. Mir ist das selbst bei der Lektüre aufgefallen: der japanische Text ist äußerst simpel geschrieben, ohne komplexe Sätze oder schwierige Formulierungen. Stattdessen liegt die eigentliche Bedeutung hier vielleicht noch stärker als bei anderen Texten aus Japan zwischen den Zeilen. Gerade bei der Übertragung in eine Fremdsprache ist dabei eine Menge kulturelles Wissen notwendig. Die Tiefe der nur 146 Seiten langen Geschichte entsteht also in dem, was explizit nicht gesagt wird oder gesagt werden muss.
Die Bedeutung ins Deutsche zu übertragen ist der erfahrenen Übersetzerin, die seit Jahrzehnten auch die Romane von Murakami Haruki übersetzt, dabei hervorragend gelungen. Auch ohne Vorkenntnisse über die japanische Gesellschaft kann der Roman die europäische Leserschaft zum Lachen und Grübeln bringen.
Der deutsche Titel Die Ladenhüterin weicht übrigens stark vom Originaltitel Konbini Ningen コンビニ人間 (wortwörtlich Convenience-Store-Mensch ab), fängt auf dramatische Weise aber den Zustand der Protagonistin ein. Gräfe hat auf Nachfrage erklärt, dass der Titel der Übersetzung von der Marketing-Abteilung des deutschen Verlags festgesetzt wurde. Ihr Favorit wäre der Titel Homo Conveniens gewesen.
Weitere Rezensionen finden sich unter anderem bei Deutschlandfunk Kultur und bei Perlentaucher.
Der Roman ist eine hervorragende Lektüre für einen entspannten Sommernachmittag, da man die gesamte Geschichte in einem Satz durchlesen kann.
Weiterführend:
Der zweite Roman von Murata Sayaka, Das Seidenraupenzimmer, ist ebenfalls in Übersetzung von Ursula Gräfe bereits im Aufbau Verlag erschienen.
Konbinis sind so essentiell für das japanische Stadtbild der Gegenwart, dass praktisch jede in Japan lebende Person eine Geschichte zu erzählen hat. Und so ziemlich jeder hat seinen Lieblings-Konbini. Japans auch weltweit vertretener Platzhirsch Seven/Eleven, der direkte Verfolger Family Mart oder der lachende Dritte Lawson? Oder etwa doch der Konbini mit der größten Auswahl an belegten Brotwaren, Daily Yamazaki? Diese Podcast-Folge von Deep Dive der Japan Times hat sich mit dem Thema näher auseinandergesetzt.
Mein Lieblings-Konbini: Lawson, da man dort Hikiwari Natto und schmackhafte Onigiri gefüllt mit Edamame kaufen kann. Kombiniert mit einem Karton gekühlten Jasmintee eine perfekte Mahlzeit für heiße Sommertage in Tokyo.
In vermutlich zwei Wochen geht es hier mit einem weiteren Extrablatt weiter. Thema dann: Minderheitensprachen in der japanischen Präfektur Okinawa und Norddeutschland im Vergleich. Bis dahin wünsche ich einen schönen Sommer!