Ausblick Extrablatt: Das Erbe von Tokyo (5/5)
Mehr zum Urteil von Radhabinod Pal und den Nachwehen eines richtungsweisenden Prozesses im Völkerstrafrecht.
Willkommen zurück. In der letzten Ausgabe wurde zwar das Urteil des indischen Richters Pal kurz angerissen, vor allem seine Feststellung, dass keine der vorgebrachten Straftatbestände anzuwenden und alle Angeklagten des Kriegsverbrecherprozesses von Tokyo demnach unschuldig und unverzüglich freizusprechen seien. Diese extreme Ansicht bedarf einer Einordnung.
Die übrigen Ausgaben dieser Reihe finden sich hier.
Der Positivist und das Rückwirkungsverbot
Zwar habe ich zuvor bereits erklärt, dass es durchaus Rechtsquellen gab, die das Verbrechen der aggressiven Kriegsführung für illegal erklärten. Der Existenz des Briand-Kellog-Paktes und anderer Abkommen war sich auch Radhabinod Pal bewusst. Diese waren, so seine Sicht, jedoch nicht in dem Prozess als Rechtsquelle zu verwenden, da sie lediglich luftige Absichtserklärungen darstellten. Das Völkerstrafrecht war, so das Urteil von Pal, zu Ende des Pazifikkrieges nicht in der Lage, Individuen für die Verbrechen von Staaten zu verurteilen.
Eine solch restriktive Auslegung des Rechts lässt Pal als einen Positivisten dastehen. Rechtspositivismus ist eine restriktive Auslegung von Rechtssätzen, die ausschließlich auf niedergeschriebenes und durch einen Gesetzgeber sanktioniertes Recht zurückgreift. Dadurch entsteht auch einer der wichtigsten Grundsätze des modernen Rechtsstaates überhaupt: nullum crimen, nulla poena sine lege. Niemand darf für etwas bestraft werden, was zum Zeitpunkt der Tat noch nicht unter Strafe gestellt war. Dies ist vor allem für das Strafrecht bis heute relevant.
Einer der Vordenker des Positivsmus war der österreichisch-amerikanische Jurist Hans Kelsen. Kelsen, einer der bekanntesten Gegner der rückwirkenden Rechtsanwendung, hatte jedoch noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs bereits folgende Feststellung über die Gültigkeit des nullum crimen-Grunsatzes im Völkerrecht notiert (meine Übersetzung):
Ihm [i.e. dem Grundsatz] liegt der moralische Gedanke zugrunde, dass es nicht gerecht ist, einen Menschen für eine Handlung verantwortlich zu machen, wenn er bei der Ausführung der Handlung nicht wusste und nicht wissen konnte, dass seine Handlung ein Unrecht darstellt. War die Handlung jedoch zum Zeitpunkt ihrer Vornahme moralisch, wenn auch nicht rechtlich falsch, so ist ein Gesetz, das die Handlung nachträglich sanktioniert, nur vom rechtlichen, nicht vom moralischen Standpunkt aus rückwirkend. Ein solches Gesetz verstößt nicht gegen den sittlichen Gedanken, der dem fraglichen Grundsatz zugrunde liegt.
Moralisches und juristsisches Unrecht können also auseinanderfallen. Sofern ein Individuum sich also bewusst ist, dass er oder sie ein bisher nicht so kodifziertes “moralisches” Kriegsverbrechen begeht, ist der Grundsatz des Rückwirkungsverbots weniger strikt auszulegen. An gleicher Stelle stellt Kelsen in seinem Werk „Peace Through Law“ auch fest, dass es im Völkerrecht, wie es Mitte der 1940er Jahre existierte, überhaupt kein grundlegendes Rückwirkungsverbot gab.
Die Führung eines legitimen Verteidigungskrieges?
Es bleibt festzustellen, dass Pal die japanische Kriegsführung außerdem für durchgehend passiv hielt. Dieser Aspekt wurde und wird weiterhin lebhaft diskutiert, da zumindest einige Umstände in diese Richtung deuten könnten. Ein Indiz ist das Ölembargo, das vor Beginn des Pazifik-Krieges 1941 durch die USA gegen das japanische Kaiserreich verhängt wurde. Problematisch wird eine solche Argumentation jedoch bereits, wenn man einen Blick auf den Beginn japanischer Aggressionen gegenüber der Republik China wirft. Diese begannen spätestens mit dem Zweiten Sino-Japanischen Krieg, der durch Intrigen der verbrecherisch agierenden japanischen Kwantung-Armee Ende der 1920er Jahre ausgelöst wurde und den Beginn des Zweiten Weltkrieges in Asien darstellt. Hier ist eindeutig belegbar, dass Japan durch die Errichtung eines Marionettenstaates in der Mandschurei und durch die Ermordung hochrangiger Politiker bewaffnete Auseinandersetzungen nicht zur bloßen Verteidigung des eigenen Staates begonnen hatte. Auch diente das Öl, welches Japan Anfang der 1940er Jahre nicht mehr importieren konnte, vor allem der expanisven Militärkampagne in Nordostchina.
Aus der Sicht von Radhabinod Pal ist die Gesamtlage jedoch anders zu bewerten. Laut Pal war China zum damaligen Zeitpunkt kein funktionierender oder gar souveräner Staat. China konnte sich deshalb auch nicht auf die Rechte von Staaten im Völkerrecht berufen. Diese Argumentation ist nicht unbedingt schlüssig und erzeugt zudem neue Probleme. Mit dieser Argumentation hätte, wie auch Nakazato in seinen Ausführungen zu Pals Urteil feststellt, jeder Staat der Welt China angreifen und sich dessen Territorium einverleiben dürfen, ohne dass diese Aggression ein rechtliches Problem im Sinne des Völkerrechts darsgestellt hätte.
Im weiteren Verlauf von Pals Urteil wird deutlich, dass seinen Ausführungen sowohl eine anti-chinesische Haltung als auch eine klar anti-kommunistische Ideologie zugrunde liegt. Das Schreckgespenst des Kommunismus war, wie es sich in China während des Brügerkriegs zwischen den Nationalisten und der kommunistischen Volksbefreiungsarmee immer mehr bemerkbar machte, für Pal ein äußerst bedrohliches Szenario.
An dieser Stelle ist es wichtig, ein wenig über Pals Herkunft und Sozialisierung zu erfahren. Geboren im noch britisch kontrollierten Indien, wuchs er in verhältnismäßig einfachen Verhältnissen in der Region Bengalen auf, einem äußerst fruchtbaren Nährboden für indischen Nationalismus und auch für die sogenannte Indian National Army (INA). Diese setzte auf einen bewaffneten Kampf gegen die britische Herrschaft und war Anfang der 1940er Jahre eng mit der japanischen Armee alliiert. Japan hatte zu diesem Zeitpunkt weite Teile des asiatischen Festlandes unter seine Kontrolle gebracht. Die Führung der INA, im absoluten Gegensatz zu indischen Politikern der Unabhängigkeitsjahre wie Jawaharlal Nehru oder Mahatma Gandhi, setzte auf einen Sieg Japans, um so die eigene Unabhängigkeit zu erlangen. Es ist mittlerweile gut belegt, dass Pal vor seiner Abreise nach Tokyo bereits einige Verbindungen mit einigen Vordenkern der INA und der nationalistischen Strömungen in seiner Heimat Bengalen hatte. Der japanische Slogan eines „Asiens für Asiaten“ war ihm intellektuell also nicht unbedingt fremd.
Wer mehr über die politische und juristische Sozialisierung von Radhabinod Pal erfahren möchte, sollte Nakazato Nariakis Buch über den indischen Juristen unbedingt heranziehen.
Die Ienaga-Minear-Debatte
Eine hitzige intellektuelle Auseinandersetzung in den folgenden Jahrzehnten war auch der Disput zwischen den beiden Historikern Ienaga Saburo und Richard Minear. Auch dieser Streit hatte indirekt mit einer Bewertung von Pals Urteil zu tun.
Während der Japaner Ienaga als einer der lautstärksten Verfechter des Tribunals galt, war der US-Amerikaner Minear vor allem für seine Kritik der „Siegerjustiz“ bekannt. In seinem leider für längere Zeit zum Standardwerk mutierten Werk, welches Mitte der 1960er Jahre erschien, stellte Minear als Nichtjurist einige blumige Aussagen über die Funktionsweise des Völkerrechts auf, ohne eine tiefergehende Vorstellung von der Materie zu haben. Ganz in der intellektuellen Tradition der USA, nutzte Minear seine Ausführungen vor allem für eine Nabelschau eigener Probleme. Und die gab es vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges in großer Anzahl.
Für Minear diente der Tokyoter Kriegsverbrecherprozess, um das US-Militär und die eigene Justiz für die (durchaus belegbaren) Kriegsverbrechen etwa in Mỹ Lai anzuprangern. Das Tribunal von Tokyo diente ihm vor allem als willkommene Projektionsfläche der gelebten Doppelmoral Washingtons. Warum wurde die japanische Führung für Kriegsverbrechen verurteilt, nicht jedoch die US-amerikanische?
Minears Buch „Victor’s Justice“ ist einigen unsinnigen Ansichten durchsetzt. So unterstützte er Pals abweichendes Urteil auf voller Linie und tat dies unter anderem mit der Behauptung, Pal sei der einzige der Richter in Tokyo gewesen, der tatsächlich vorherige Erfahrungen im Völkerrecht hatte. Diese Behauptung zirkuliert bis heute auch gerne in rechtsextremen Kreisen in Japan, lässt sich aber bei genauerer Betrachtung von Pals Biographie nicht bestätigen. Vielmehr beruht diese Behauptung auf einer Reihe nie korrigierter falscher Aussagen, die mit der falschen Datierung einiger von ihm gehaltener Vorlesungen an der Universität in Kalkutta zusammenhängen.
Neben Pals Urteil gilt das Buch von Minear als Standardwerk der japanischen Rechten, wenn es um die Rezeption des Kriegsverbrecherprozesses von Tokyo geht. Minear muss aber zugute gehalten werden, dass er sich in späteren Jahren von einigen seiner Ansichten wieder distanzierte, was auch bei einem wissenschaftlichen Kongress deutlich wird, auf dem er und Ienaga ähnliche Positionen beziehen.
Die Laien-Tribunale der nachfolgenden Jahrzehnte
Weitere interessante Aspekte, die sich mehr oder weniger direkt aus dem Tokyoter Tribunal ergeben haben, sind diejenigen Prozesse, die von Laienseite veranstaltet wurden und die keine juristischen Prozeduren darstellen. Dazu gehören sowohl das Tribunal, dass zur „Verurteilung“ der USA für Kriegsverbrechen in Vietnam von Intellektuellen wie dem britischen Philosophen Bertrand Russell veranstaltet wurde, als auch jenes von Aktivistinnen Anfang der 2000er durchgeführte Tribunal, welches auch vom Namen her Bezug auf den Kriegsverbrecherprozess nimmt: das so genannte Women's International War Crimes Tribunal on Japan's Military Sexual Slavery. Hier sollte ganz bewusst jener Aspekt beleuchtet werden, der beim ursprünglichen Prozess gegen die japanische Staatsführung nur am Rande Erwähnung fand – nämlich die Ausbeutung überwiegend koreanischer und chinesischer Frauen und Mädchen in Bordellen, die vom japanischen Militär betrieben wurden. Aufmerksamen Lesenden sollte nicht entgangen sein, dass unter den zwölf Nationen, die beim Kriegsverbrecherprozess vertreten waren, Korea nicht vertreten war. Zum einen, weil das Land Mitte der 1940er in unterschiedliche Einflusszonen – sowjetisch und amerikanisch – aufgeteilt war. Zum anderen, weil es im Gegensatz zu den anderen Nationen zur damaligen Zeit keinen souveränen Staat darstellte oder, wie die Philippinen, auf dem direkten Weg dahin gebracht wurde. Auch wurden den Gräueltaten, die gegenüber Frauen im japanischen Invasionskrieg verübt wurden, objektiv kaum Raum in den ursprünglichen Verhandlungen gegeben.
Das Fazit
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass ein Fazit des Mammutprozesses von Tokyo im Rahmen dieses Newsletter immer nur oberflächlich bleiben kann. Dennoch können einige Lehren gezogen werden:
Das Völkerstrafrecht war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht endgültig gefestigt, wie die Kontroversen in der japanischen Öffentlichkeit und auf der internationalen Ebene bezeugen. Dennoch wurden hier im Anschluss an Nürnberg wichtige Grundlagen gefestigt, auf die sich auch der Internationale Strafgerichtshof und zahlreiche weitere Kriegsverbrechertribunale bis heute beziehen.
Der Prozess war, abseits von den juristischen Rahmenbedingungen, auch eine hochpolitische Angelegenheit. Auch wenn das Urteil einer unzulänglichen „Siegerjustiz“ ein wenig zu kurz greift: in die Urteile und abweichenden Meinungen flossen die zahlreichen Ansichten der einzelnen Richter aus so unterschiedlichen Ländern wie Indien oder den Niederlanden ein.
Japans Öffentlichkeit bleibt gespalten in ihrem Urteil über das Tribunal von Tokyo. Auch wenn die Juristinnen und Juristen der ersten Nachkriegsjahre sich differenziert und konstruktiv mit den Verhandlungen auseinandersetzten, überwiegt inzwischen eine meistens durch den nationalistischen Diskurs geformte Ablehnung des Prozesses. Diese Haltung verstärkt sich auch durch das wachsende Unwissen nachwachsender Generationen über die Kriegsverbrechen, die das japanische Militär in ganz Asien verübt hat.
In diesem Text zitierte Werke:
Totani Yuma, The Tokyo War Crimes Trial.
Kerstin von Lingen, Transcultural Justice at the Tokyo Tribunal. The Allied Struggle for Justice, 1946-48.
Nakazato Nariaki, Neonationalist Mythology in Postwar Japan. Pal’s Dissenting Judgement at the Toyko War Crimes Tribunal.
Futamura Madoka, War Crimes Tribunals and Transitional Justice. The Tokyo trial and the Nuremberg legacy.
Arnold C. Brackman, The other Nuremberg : the untold story of the Tokyo war crimes trials
Sebastien Roblin, The 1 Reason Imperial Japan Attacked Pearl Harbor: Oil. In: The National Interest.
Joyce C. Lebra, The Indian National Army and Japan.
Marcos Zonino, Subversive Justice: The Russell Vietnam War Crimes Tribunal and Transitional Justice.
Hans Kelsen, Peace Trough Law.
Ustinia Dolgopol, Searching for justice: the Tokyo Women’s Tribunal. In: Open Democracy.
Wer sich weiterhin mit dem Prozess auseinandersetzen möchte, dem sei ein Blick auf die Literaturliste unter den Artikeln empfohlen. Auch gibt es eine vierteilige Serie des japanischen Rundfunks NHK (verfügbar bei Netflix in Deutschland und auch in anderen Ländern), die die einzelnen Etappen des Kriegsverbrecherprozesses zwischen 1946 und 1948 aus der Sicht des niederländischen Richters Bert Röling erzählt.
Damit beenden wir diese Sommer-Reihe zu einem der aus meiner Sicht spannendsten Kapitel der Zeitgeschichte Japans. Ab dem 9. September geht es hier wieder mit den gewohnten wochenaktuellen Newsletter-Beiträgen zu aktuellen Ereignissen im Indopazifik weiter.
Über Anregungen, Fragen oder Kritik freue ich mich immer. Sendet mir gerne eine Nachricht an ausblickost[at]gmail.com.