Größer als die Summe der Probleme - Xi, der Staat und die Proteste
Die Anti-Lockdown-Proteste, die die scheinbare Ordnung in der Volksrepublik China seit dem vergangenen Wochenende ins Wanken gebracht haben könnten, haben tatsächlich eine Reihe von Ursprüngen, die über die Empörung bezüglich eines Hochhausbrands in Urumqi hinausgehen.
Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hatte bereits vor einigen Monaten einen Zustand in China ausgemacht, den er als Polykrise bezeichnet: Aus seiner Sicht ist die Staatsführung um Xi Jinping derzeit mit einer Reihe von Krisen konfrontiert, die durch ihre Ko-Existenz sich gegenseitig verstärken und die gegenwärtige Situation unübersichtlicher machen. Die Gesamtheit der Krisen wird so bedrohlicher als die Summe der einzelnen Teile.
Neben den in einigen Metropolen stark angestiegenen Covid-Zahlen sowie dem stärker werdenden Widerstand aus der Bevölkerung gegen die Kontaktbeschränkungen und Hausarreste, leidet vor allem auch die Volkswirtschaft des Landes stark unter den immer wieder drohenden oder tatsächlich eintretenden Produktionsproblemen durch die Lockdowns.
Auch hat die Biden-Regierung in Washington durch verstärkte wirtschaftliche Sanktionen dafür gesorgt, dass chinesischen Unternehmen der Zugang zu begehrten Produktionsbestandteilen (Stichwort Mikrochips) in vielen Fällen verwehrt bleibt. Auch das stärker werdende Misstrauen in der EU und in andere Regionen gegenüber chinesischem Investment drohen für das exportorientierte Wirtschaftssystem Chinas langfristig zum Problem zu werden. Außerdem gibt es massive Probleme bei den Banken und im Immobiliensektor, die weiterhin ungeklärt bleiben.
Eine Gefahr für Xi?
Die Menschen scheinen sich mit der Möglichkeit anzufreunden, dass Xi und die kommunistische Partei insgesamt und auf lange Sicht vielleicht nicht mehr in der Lage sein könnten, durch massives Wirtschaftswachstum den Wohlstand und die übrigen Lebensbedingungen zu verbessern.
Aber auch wenn eine solche Polykrise durchaus als Theorie im Raum stand: Die Ausmaße der Proteste scheinen viele Beobachterinnen und auch viele Menschen in China ernsthaft zu überraschen. Festzuhalten ist:
Es handelt sich um die ersten „landesweiten“ Proteste seit der Demokratiebewegung von 1989 und der Niederschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz, sprich sie finden oder fanden in allen wichtigen Metropolen und Provinzen statt
Viele Protestierende haben nicht nur ihrem Ärger über Corona-Beschränkungen Luft gemacht, sondern ganz explizit Xi und seine Führungsrolle infrage gestellt
Die Reaktion der Regierung folgt übrigens einem vertrauten Skript: Neben der obligatorischen Zensur in sozialen Medien und der Steuerung der offiziellen Botschaft durch staatstragende Medien versucht man vor allem, Probleme bei den fortdauernden Beschränkungen auf die regionale Ebene abzuwälzen: Missmanagement und Kompetenzüberschreitung von staatlicher Seite passieren der offiziellen Linie zufolge immer nur vor Ort in den Provinzen, niemals aber zentral aus Peking gesteuert. Das jahrtausendealte chinesische Sprichwort „Der Berg ist hoch und Peking ist weit, weit entfernt“ wird so durch die Staatsführung wieder einmal auf den Kopf gestellt.
Festzuhalten ist aber trotz aller Euphorie über die Proteste:
Die Zahlen der Beteiligten sind (bisher zumindest) überschaubar. Auch wenn es ein paar Tausend sein mögen: Kritisch ist diese Menge auch aufgrund der in den Straßen präsenten Einsatzkräfte der Polizei bei weitem nicht.
Xi sitzt vor allem auch nach dem Abschluss des Parteikongresses fester im Sattel als vorher. Kritik an seiner Person führt nun wohl kaum dazu, dass sich in der KPCh und in der Partei-Armee, der Volksbefreiungsarmee, ein Widerstand gegen sein Mandat bilden wird.
Die Partei und die Staatsführung müssen nun dennoch dafür sorgen, dass sich die Lage entspannt. Das ist aufgrund der oben erwähnten Polykrise aber äußerst schwierig.
Die große Unbekannte ist nun der plötzliche Tod von Ex-Staatschef Jiang Zemin. Ob dessen Ableben einen Einfluss auf den Verlauf der Proteste (oder der multiplen Krisen) haben könnte, werden wir vielleicht in den nächsten Tagen sehen können.
Weiterführend:
In der aktuellen Episode vom neuen China-Podcast vom Economist (Drum Tower) wird nochmal erklärt, wie die sogenannten Nachbarschaftskomitees, die als Kontrolle für ganze Stadtviertel während der Mao-Zeit eingerichtet wurden, unter Xi und gerade bei der Bekämpfung der Pandemie ein schauerliches Comeback gefeiert haben. Und obwohl sie ein Baustein für die absolute Kontrolle des Staates sein sollen, zeigt sich hier nun die Schwachstelle im System Xi. Hier nachzuhören.
Bedingt aussagekräftig: Taiwan und die Regionalwahlen
Eine gänzlich andere Krise erlebt derweil die demokratisch gewählte Regierung auf der anderen Seite der Straße von Taiwan. Bei den Regionalwahlen am vergangenen Wochenende wurde die regierende links-zentristische DPP, die seit 2016 die Regierung und die Präsidentin stellt, abgestraft. Staatspräsidentin Tsai Ing-wen hat nun ihren Posten als Parteivorsitzende abgegeben.
Internationale Beobachter haben aus dem Wahlergebnis versucht, Schlüsse über den Zustand der Debatte rund um die chinesische Aggression zu ziehen. Schließlich ist die DPP, anders als die konservative Opposition der KMT, eher konfrontativ gegenüber Peking und hat in der Vergangenheit für mehr Autonomie beziehungsweise für eine offene Unabhängikeitserklärung gedrängt. Ist die Stimmung in Taiwan also nicht mehr auf Unabhängigkeit ausgerichtet?
Drei wichtige Punkte sind bei der Betrachtung zu beachten:
Es handelte sich nicht um Präsidentschafts-, sondern um Regionalwahlen. Für viele Wählende standen lokale Belange im Mittelpunkt und nicht die militärischen Aggressionen des großen Nachbarlandes.
Vor allem ist zu erkennen, dass Amtsinhaber oft wiedergewählt wurden. Hier hat vor allem auch die Persönlichkeit und die Vertrautheit von Kandidatinnen und Kandidaten eine Rolle gespielt.
Dennoch ist die DPP-Niederlage extremer ausgefallen als gedacht. Das hat dem Blog Frozen Garlic zufolge übrigens weniger mit der guten Performance der Opposition zu tun als mit Fehlern, die die DPP selbst begangen hat.
Und es scheint tatsächlich zahlreiche Wechselwähler in Taiwan zu geben (meine Übersetzung):
Wahrscheinlicher ist, dass es viele Menschen gab, die 2020 für Tsai und dieses Jahr für einen blauen (sprich: Oppositions-) Bürgermeisterkandidaten gestimmt haben. Wir haben keine ersten Hochrechnungen und die Umfragen nach der Wahl werden erst in einigen Monaten veröffentlicht, aber das ist es, was ich letztendlich erwarte zu sehen. In den diesjährigen Ergebnissen sind bereits einige Anzeichen für eine parteiübergreifende Anziehungskraft und eine “vote-splitting” zu erkennen.
Tsai wird bei der kommenden Wahl in zwei Jahren nicht mehr antreten. Die Suche nach einer innerparteilichen Nachfolge wird spätestens jetzt begonnen haben.
Weiterführend:
Soweit war es das für dieses Mal. Kommentare, Themenvorschläge oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!