Ausblick 2022/22: Periphere Gerechtigkeit? Ein Blick nach Kambodscha
Mit einer Analyse zum Ende des Rote-Khmer-Tribunals in Kambodscha.
Willkommen zurück. Heute blicken wir auf die sogenannten “Sonderkammern an den Gerichten Kambodschas”, welche das Gewaltregime der Roten Khmer (1975-1979) juristisch aufbereiten sollten. Wie gut das gelungen ist und welche Lektionen für das Völkerrecht aus dem Prozess zu lernen sind, soll dabei im Mittelpunkt stehen.
Fluch und Segen der Peripherie: Das Ende des Rote-Khmer-Tribunals in Kambodscha
Als Mitte September das Urteil gegen Khieu Samphan, Staatsoberhaupt der Roten Khmer, in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh gesprochen wurde, ging eine Ära des Völkerrechts und allgemein der Aufarbeitung von staatlichen Gewaltverbrechen zu Ende: Es handelte sich nämlich um den letzten Revisionsprozess der „Außerordentlichen Kammern an den Gerichten Kambodschas“, international eher bekannt als Rote-Khmer-Tribunal.
Das Tribunal stellt in einigen Aspekten einen Präzedenzfall für den Umgang mit den so genannten internationalen Verbrechen (Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Völkermord, eingeschränkt auch das Verbrechen der Aggression) dar.
Im Laufe von 16 Jahren wurden von dem Tribunal exakt drei ehemalige Offizielle jenes Terrorregimes verurteilt, welches je nach Schätzung für den Tod von rund zwei Millionen Menschen – etwa einem Viertel der damaligen Bevölkerung Kambodschas – verantwortlich war. Haben sich diese juristischen Verhandlungen, welche insgesamt ungefähr 350 Millionen US-Dollar gekostet und eben nur drei steinalte Männer zu Gefängnisstrafen verurteilt haben, für Kambodscha und fürs Völkerrecht gelohnt?
Historischer Hintergrund
Um die weltpolitische Bedeutung der Roten Khmer zu verstehen, müssen wir einen Blick auf das Indochina nach dem Zweiten Weltkrieg blicken. Die französische Kolonialherrschaft lag bereits in den letzten Zügen, und die Kritik am Kolonialismus war nicht nur in der Region, sondern auch in Frankreich selbst zu spüren. Zahlreiche Studierende aus den Kolonien kamen damals in Paris mit den Ideen des Kommunismus in Kontakt, so auch eine Gruppe junger Kambodschaner, zu denen Ende der 1940er Jahre auch ein gewisser Saloth Sar gehörte. Dieser Mann sollte als Pol Pot zu grausamer Berühmtheit gelangen.
1953 kehrte er nach Kambodscha zurück und war Teil der Kommunistischen Partei Indochinas, die von der Kommunistischen Partei Vietnams mehr oder weniger kontrolliert wurde. In den politischen Unruhen nach der Unabhängigkeit von Staaten wie Vietnam und Kambodscha ging Pol Pot mit anderen kambodschanischen Kommunisten schließlich in den Untergrund. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich sein Blick auf die politischen Umstände grundlegend geändert: Die Dominanz der vietnamesischen KP sah er kritisch, die Entwicklungen im maoistischen China (etwa der für die chinesische Bevölkerung katastrophale „Sprung nach vorne“ und die radikalen politischen Tötungen der Kulturrevolution) hingegen als mögliches Modell für Veränderungen in Kambodscha.
Ab 1970 standen die kommunistischen Truppen dem Regime und der Monarchie im Kambodschanischen Bürgerkrieg gegenüber. 1975 konnten die Kommunisten die Hauptstadt Phnom Penh schließlich einnehmen. Was dann folgte, kann zweifellos als eines der dunkelsten Kapitel der Weltgeschichte beschrieben werden: Das kommunistische Regime der Roten Khmer verfolgte alle „Elemente“ der Bevölkerung, die als konterrevolutionär oder auch nur intellektuell betrachtet wurden: Vertreter des alten Regimes, die Stadtbevölkerung, Lehrerinnen oder Professoren. Schulen und Krankenhäuser wurden geschlossen. International isolierte sich das Regime mit Absicht, Handelsbeziehungen wurden praktisch vollständig eingestellt.
Millionen Menschen wurden unter schlimmsten Bedingungen zur Zwangsarbeit in ländliche Regionen gebracht, Unzählige wurden gefoltert, vergewaltigt und hingerichtet. Es gibt Berichte, wonach Menschen schon durch das Tragen einer Brille als feindlich und „intellektuell“ galten und getötet wurden. Besonders berüchtigt waren die sogenannten Killing Fields, etwa 300 Orte, an denen politisch motivierte Tötungen von Hunderttausenden durchgeführt wurden.
Pol Pots erklärtes Ziel: Die Errichtung eines durch und durch agrarischen Staates, unbeschmutzt von modernen, bürgerlichen Elementen. Die neue Gesellschaft sollte vor allem von Angehörigen der Khmer-Ethnie gebildet werden. So war auch ein Plan des Regimes, in Kambodscha lebende ethnische Minderheiten wie Vietnamesen oder die Gruppe der Cham zu beseitigen. Heute wird allgemein von einem Völkermord an den ethnischen Minderheiten gesprochen, der von den Roten Khmer durchgeführt wurde.
Mehr über die Geschichte dieser Zeit:
Pol Pot - The Khmer Rouge & the Killing Fields Documentary (auf dem Youtube-Kanal The People Profiles)
Michael Vickery, Cambodia 1975 – 1982 (hier zu lesen)
Warum die späte Aufarbeitung?
Tatsächlich gab es nach dem Sturz der Roten Khmer erste von der vietnamesischen Besatzung verordnete Strafprozesse, die Pol Pot und andere hochrangige Persönlichkeiten des Unrechtsregimes in Abwesenheit verurteilten. Jedoch kann in diesen Fällen nicht von Prozessen gesprochen werden, die den grundlegenden Rechtsstaatsprinzipien entsprachen. Sie wurden international ignoriert, auch weil China und die USA die Roten Khmer nach dem durchgeführten Völkermord weiterhin als legitime Regierung Kambodschas anerkannten.
Dass sich das mörderische Regime bis 1979 bis zum Einmarsch vietnamesischer Truppen halten konnte, hat vor allem mit der weltpolitischen Lage zu tun: Die Volksrepublik China war eng mit den Roten Khmer verbündet, die USA sahen diese als mögliches Gegengewicht gegen die verhassten Viet Cong. Der Sturz der Roten Khmer durch die kommunistischen Truppen Vietnams gilt auch als einer der Auslöser des Grenzkriegs zwischen der Volksrepublik China und dem kommunistischen Vietnam Ende der 1970er Jahre.
Viele linke Intellektuelle im Westen zeigten eine bemerkenswerte Unterstützung oder zumindest Toleranz für die Roten Khmer. Auch Linguist Noam Chomsky kritisierte westliche Berichterstattung über die Verbrechen in Kambodscha zeitweise als bloße „Propaganda“. Während das Ende des Zweiten Weltkrieges mit den Tribunalen von Nürnberg und Tokyo eine neue Ära des Völkerstrafrechts einläutete, verhinderten die Animositäten zwischen Moskau und Washington während des Kalten Krieges seine weitere Entwicklung, etwa die Etablierung eines permanenten internationalen Strafgerichtshofs.
In den 1990er Jahren hatte sich die Lage dann jedoch entspannt: Das autoritäre, aber stabile Regime von Premierminister Hun Sen erlangte breite internationale Anerkennung, mögliche Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für eine juristische Aufarbeitung des Völkermordes erschien auf einmal wahrscheinlich.
Struktur des Tribunals
Die „Außerordentlichen Kammern an den Gerichten Kambodschas“ stellen einen Präzedenzfall im Völkerrecht dar. Anders als bei den internationalen Tribunalen für Jugoslawien und Ruanda wurde im Falle Kambodschas ein Hybrid-Tribunal entwickelt. Hybrid bedeutet in diesem Falle, dass die Richterinnen und zum Teil aus Kambodscha und zum Teil aus anderen Ländern kamen und dass der rechtliche Rahmen sich aus einer Einigung zwischen Kambodscha und den UN ergab. So wurden Verbrechen verfolgt, die im kambodschanischen Strafgesetzbuch zu finden sind, ebenso wie die universell verfolgbaren Internationalen Verbrechen sowie alle in völkerrechtlichen Konventionen und Verträge kodifizierten Straftatbestände, sofern diese von Kambodscha unterzeichnet wurden.
Auch die Finanzierung wurde auf verschiedene Akteure verteilt. So haben vor allem Japan, die USA und zu einem Teil auch die Bundesrepublik Deutschland und andere Nationen das Tribunal mitfinanziert. Kambodscha hat damit den Weg für weitere hybride Tribunale in anderen Ländern geebnet, die nach einem ähnlichen Prinzip gestaltet sind. Dazu zählen Prozesse zu Verbrechen und Kriegen in Staaten wie Sierra Leone, Ost-Timor, Kosovo oder auch Libanon.
Kritik am Tribunal
Kritisch betrachtet wurde schon zu Beginn der Verhandlungen, dass die Jurisdiktion sich ausschließlich auf die Herrschaftszeit der Roten Khmer bezieht. Keine anderen Verbrechen außerhalb dieses Zeitraums durften betrachtet werden. Es gab auch immer wieder Vorwürfe gegen das derzeitige Regime in Kambodscha, die Strafverfolgung nicht ernst genug zu nehmen und beispielsweise Individuen, denen Völkermord vorgeworfen wurde, nicht festgenommen zu haben. Auch gibt es bis heute zahlreiche Vertreter der Roten Khmer, die im Staat wichtige Positionen übernehmen oder von dessen Bürokratie geschützt werden.
Zudem gab es immer wieder berechtigte Sorgen, dass es zu einem politischen Einfluss über die Gerichtsverhandlungen kommen könnte. So hat die Regierung von Hun Sen immer wieder Druck auf die kambodschanischen Richter und die Anklage am Tribunal ausgeübt. Auch die bereits angesprochenen hohen Kosten für lediglich drei Urteile wurden international kritisiert. Dieser Punkt könnte jedoch dadurch relativiert werden, dass die Beweisaufnahme das Gericht vor große Herausforderungen stellte und ein Großteil der Kosten sich darin begründen dürfte.
War das Tribunal ein Erfolg?
Trotz der für den finanziellen Aufwand äußerst geringen Anzahl von Urteilen genießen die Sonderkammern ein recht hohes Ansehen in der kambodschanischen Gesellschaft. Das Regime der Roten Khmer hatte versucht, bestimmte Bevölkerungsgruppen und Gesellschaftsschichten vollständig auszulöschen, darunter auch Menschen mit grundlegender juristischer Ausbildung. Das hatte zur Folge, dass in den nachfolgenden Jahrzehnten der Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen nur eingeschränkt gelingen konnte.
Und so sollten die Sonderkammern, ähnlich wie vergleichbare Tribunale oder auch der heute permanente Internationale Strafgerichtshof, zu einem Vorbild transparenter und unabhängiger Justiz werden. Die hybride Natur des Tribunals hat dafür gesorgt, dass laut Artikel 9 des Gesetzes über das Tribunal eine Mehrheit der Richter zu jedem Zeitpunkt aus Kambodscha stammen musste. Das so aufgebaute institutionelle Wissen könnte dem weiterhin autokratischen Land so bei seiner Entwicklung hin zu einer demokratischeren und rechtsstaatlicheren Gesellschaft helfen.
Das kambodschanische Trauma der Vergangenheit konnte in Teilen ebenfalls aufgearbeitet werden. Viele Betroffene berichten, dass so zum ersten Mal eine Kultur der friedlichen Diskussion über die Vergangenheit geschaffen wurde. Menschen konnten im Publikum an den Verhandlungen teilnehmen, viele Überlebende wurden als Zeugen angehört. Dennoch bleibt zu kritisieren, dass jegliche staatliche Verbrechen, die vor oder nach der Regierungszeit der Roten Khmer verübt wurden, nicht verfolgt werden konnten und somit weiterhin große Lücken in der juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit Kambodschas bestehen.
Was bleibt?
Trotz seiner Defizite erlebten die „Sonderkammern an den Gerichten Kambodschas“ eine bemerkenswerte Resonanz in der Gesellschaft. Das liegt vielleicht auch daran, dass die Gerichtsverhandlungen vor Ort in Phnom Penh stattfanden und nicht etwa im fernen Den Haag oder der Hauptstadt eines Nachbarlandes.
Sowohl die Tatsache, dass die internationale Gemeinschaft über Jahrzehnte kein Interesse an der Aufarbeitung des Regimes der Roten Khmer hatte, als auch die letztendliche Einrichtung des Tribunals scheinen einer Tatsache geschuldet zu sein: Die Ereignisse in Kambodscha stellen aus realpolitischer Sicht nur eine Randerscheinung in der Geschichte Asiens oder gar der Welt dar. Hätte Kambodscha Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre eine größere geostrategische Bedeutung für China oder die USA (oder sogar Russland) gehabt, wäre ein unabhängiges internationales Tribunal kaum eingerichtet worden.
Weiterführende Lektüre und Podcasts:
Alexander L. Hinton, Man or Monster? The Trial of a Khmer Rouge Torturer
Tom Fawthorp, Helen Jarvis, Getting Away With Genocide? Elusive Justice and the Khmer Rouge Tribunal
In the Shadows of Utopia – A Cambodian History Podcast
(Vielen Dank an Charlie für den Themenvorschlag)
Kommende Woche werde ich aus terminlichen Gründen leider keinen Newsletter veröffentlichen können. Die nächste reguläre Ausgabe erscheint somit am 28. Oktober.
Soweit war es das für diese Woche. Kommentare, Themenvorschläge oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bei Paywall-Problemen in verlinkten Artikeln stehe ich gerne mit Hilfe bereit. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!