Willkommen zurück am Ende einer Woche, in der Weizenexporte aus Indien wegen der dort herrschenden Dürre gestoppt wurden, in welcher Shanghai sich immer noch im Lockdown befindet und in der sich die Rückgabe Okinawas an Japan zum fünfzigsten Mal jährt.
Um diese Themen wird es dieses Mal nicht im Detail gehen. Stattdessen werten wir den EU-Japan-Gipfel rhetorisch. Außerdem gibt es ein paar Empfehlungen zum Lesen und Hören.
Zwei Konflikte, zusammengedacht: Die EU und Japan positionieren sich
Der bereits vergangene Woche abgehaltene Gipfel zwischen der EU und Japan war aus mehrerer Hinsicht beachtenswert. Zum einen, weil die beiden Spitzen der Europäischen Union, Kommissionspräsidentin von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel, mitten in der größten europäischen Krise des 21. Jahrhunderts einen validen Anlass sahen, eine andere Problematik als den Ukrainekrieg in den Mittelpunkt zu stellen und nach Ostasien zu reisen. Zum anderen, weil spätestens mit Blick in das Joint Statement von EU und Japan klar ist, dass Japans Premierminister Kishida Fumio ein neues Lieblingswort hat: Status Quo (jp. 現状 genjou), welches nicht nur prominent in dem Dokument untergebracht ist, sondern derzeit auch aus keiner anderen außenpolitischen Verlautbarung der japanischen Regierung wegzudenken ist.
Aber der Reihe nach. Tatsächlich erfüllte die Japan-Reise der europäischen Führungsriege den gewünschten Zweck, einen demonstrativen Schulterschluss mit Tokyo zu verkünden. Kaum ein Land außerhalb Europas und Nordamerikas geht derzeit durch Sanktionen und öffentliche Verlautbarungen so konsequent mit der russischen Aggression um wie Japan (so konsequent offenbar, dass neben zahlreichen Regierungsmitgliedern auch Politiker der oppositionellen Kommunistischen Partei Japans auf der Moskauer Sanktionsliste gelandet sind). Dass Japan die Invasion der Ukraine als eine Art Blaupause für chinesische Pläne gegenüber Taiwan wahrnimmt, ist hier bereits diskutiert worden. Und so ist das gemeinsame Statement am Ende dieses Gipfels auch ein recht konkreter Katalog, der sowohl Russland als auch China als Aggressoren bezeichnet und konkrete gemeinsame Projekte zur Aufrechterhaltung des Status Quo auflistet.
Kritik an Russlands Angriffskrieg (Zitate jeweils meine Übersetzung):
Wir verurteilen aufs Schärfste die russische Aggression, die massive Verluste an Menschenleben und Leid für die Zivilbevölkerung verursacht. Die Verantwortlichen für die von Russland begangenen Kriegsverbrechen und Gräueltaten werden zur Rechenschaft gezogen und vor Gericht gestellt.
[…]
Wir werden der Ukraine weiterhin koordinierte politische, finanzielle, materielle und humanitäre Unterstützung zukommen lassen.
Japans Rolle für die europäische Energiesicherheit:
Die Europäische Union dankt Japan für die in diesem Jahr gezeigte Solidarität bei der Sicherstellung einer ausreichenden und erschwinglichen Versorgung der EU-Märkte mit Flüssigerdgas (LNG). Angesichts der Sanktionen gegen Russland werden wir zusammenarbeiten, um die globalen Energiemärkte stabil zu halten und die gegenseitige Versorgungssicherheit zu gewährleisten, insbesondere bei der Lieferung von LNG.
Status Quo überall beibehalten:
Wir lehnen jeden einseitigen Versuch, den Status quo mit Gewalt zu verändern, ungeachtet des Standorts, als ernsthafte Bedrohung für die gesamte internationale Ordnung ab. Wir werden die Zusammenarbeit für einen freien und offenen Indopazifik verstärken, der alle einschließt, auf Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Werten beruht und nicht durch Zwang eingeschränkt wird, und zwar auf der Grundlage unserer jeweiligen, sich ergänzenden Strategien für den indopazifischen Raum.
Chinas Expansion im Ostchinesischen Meer:
Wir sind nach wie vor ernsthaft besorgt über die Situation im Ostchinesischen Meer, einschließlich der Gewässer um die Senkaku-Inseln, und im Südchinesischen Meer und wenden uns entschieden gegen alle einseitigen Versuche, den Status quo zu verändern und die Spannungen zu verstärken, die die regionale Stabilität und die auf Regeln basierende internationale Ordnung untergraben könnten.
[Anmerkung: dass in einem offiziellen Dokument der Europäischen Union nur der japanische Name der umstrittenen Inselgruppe, die im chinesischen Diaoyu-Inseln genannt werden, erwähnt wird, dürfte an sich bereits eine unterschwellige politische Botschaft ausstrahlen und einen rhetorischen Erfolg Tokyos bedeuten.]
Verhalten gegenüber China und Russland und in anderen Weltregionen:
Wir werden unseren Austausch über China vertiefen, insbesondere im Hinblick auf die politische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Dynamik, einschließlich der Lage in Hongkong, sowie über die Menschenrechte, auch in Xinjiang. Wir werden unsere enge Koordinierung in Bezug auf Russland fortsetzen.
[…]
Wir werden uns in Bezug auf andere gemeinsame Interessen wie die Östliche Partnerschaft, Belarus, den westlichen Balkan, Zentralasien, den östlichen Mittelmeerraum, Libyen, die Sahelzone, das Horn von Afrika, den Nahost-Friedensprozess, Syrien, Afghanistan, Myanmar sowie Lateinamerika und die Karibik eng abstimmen. Wir werden uns auch um eine enge Abstimmung zwischen der EU, Japan und den USA in globalen und regionalen Fragen bemühen.
Große Teile des restlichen Dokuments beschäftigen sich mit einer engeren Wirtschaftskooperation und gemeinsamen Strategien und Initiativen gegen die Auswirkungen des Klimawandels.
Insgesamt bleibt zu erkennen, dass die Ausführungen für beide Seiten relevante Punkte beinhalten und die jeweils aus der Sicht Brüssels und Tokyos größten geopolitischen Herausforderungen inzwischen zusammengedacht werden: die Aggressionen Russlands und Chinas. Da sich Moskau und Peking ja bereits im Februar zu einer „grenzenlosen Freundschaft“ bekannten, ist dieser Gedanke vermutlich nur folgerichtig. Dass Japan, unter den konstitutionellen Beschränkungen der eigenen pazifistischen Verfassung, sich so klar gegen Russland positioniert hat, wird auch in der EU wahrgenommen. So scheinen Brüssel und Tokyo ebenfalls eine beinahe “grenzenlose” Freundschaft zu entwickeln.
Scharfe Verurteilungen für diese klaren Worte waren dagegen wenig später aus Peking zu hören, vorgetragen vom Wolfskrieger und Sprecher des Außenministeriums, Zhao Lijian. Wenn Japan nun die USA oder die EU in die Konflikte Ostasiens hineinziehen würde, bedeute dies eine ernsthafte Bedrohung für die friedliche Ordnung, so Zhao. Dies könne, so die chinesische Sicht, die größte Bedrohung seit dem Zweiten Weltkrieg für Nachbarstaaten und auch für Japan selbst darstellen.
Weiterführend:
Der Besuch von der Leyens und Michels war nicht der einzige Anlass, der die Gemüter der chinesischen Regierung in den letzten Tagen erhitzt hat. Auch die Asien-Reise von US-Präsident Joe Biden hat empfindliche Reaktionen in Peking hervorgerufen, wie Politico berichtet.
Monatslese
In der arte-Mediathek findet sich derzeit noch eine japanische Serie. Die Protagonistin, die Hausfrau Risako, wird unerwartet zur Laienrichterin in einem Strafprozess. Vor diesem Hintergrund schlüsselt die Serie eine Reihe gesellschaftspolitischer Thematiken auf.
Australien-Wahl: Über China und den Klimawandel
Dieser Artikel bei The Conversation gibt ein wenig Kontext zu einer Wahl, die hier nicht im Detail besprochen wurde, die aber für den Indopazifik dennoch relevant ist. Da die australische Politik gegenüber China immer wieder für Kontroversen sorgt und auch zu einem innenpolitischen Faktor geworden ist, empfiehlt sich die genauere Beobachtung des Wahlausgangs ebenfalls. Auch die starke Polarisierung bezüglich der Klimafrage in Australien ist bedenkenswert.
50 Jahre Okinawa als japanische Präfektur
Wie oben bereits angesprochen, ist die heutige Präfektur Okinawa vor ziemlich genau 50 Jahren nach jahrzehntelanger US-amerikanischer Verwaltung wieder in das japanische Staatsgebiet eingegliedert worden. Anlass genug sich noch einmal die Sprachpolitik des japanischen Staates gegenüber den zahlreichen Minderheitensprachen auf den Inseln anzuschauen. Hier mein Extrablatt aus dem vergangenen Sommer, in dem ich die Sprachpolitik in Japan und Deutschland anhand der Ryukyu-Sprachen und des Niederdeutschen verglichen habe.
Soweit war es das für diese Woche. Nächste Woche wieder mit einer regulären Ausgabe. Kommentare, Themenvorschläge oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bei Paywall-Problemen in verlinkten Artikeln stehe ich gerne mit Hilfe bereit. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!