Ausblick 2022/14: Vereint im Status Quo?
Ein Blick auf die Japan-Reise von Olaf Scholz sowie eine Buchrezension.
Willkommen zurück. Nach einer terminlich bedingten Pause am vergangenen Freitag geht es weiter mit einer auf Japan fokussierten neuen Ausgabe dieses Newsletters.
Vorab noch zwei Hinweise:
Die neue Ausgabe des Podcasts Spotlight Asia Update von Polis180 ist diese Woche erschienen. Darin berichte ich als Gast über die Veränderungen der japanischen Außenpolitik seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine. Hier gibt es die Folge zum Nachhören.
Außerdem ist das Video des von mir moderierten ZOiS-Forums “Ukraine im Krieg: Ein Land im Fokus der Weltöffentlichkeit” mit Gwendolyn Sasse und Michael Thumann zum Nachschauen veröffentlicht worden. Das Video findet sich hier.
Eine strategische Reise nach Osten
Seit seinem Amtsantritt im Dezember ist Kanzler Olaf Scholz noch nicht oft verrereist. Vor seinem Kurzbesuch in Japan während der vergangenen Woche gab es tatsächlich nur zwei offizielle Staatsbesuche, in den USA und in Israel. Wenn es in der Vergangenheit für Mitglieder einer neuen Bundesregierung dann in den ersten Amtsmonaten nach Ostasien ging, war das erste Ziel meistens klar: Die Volksrepublik China. Begleitet von großen Wirtschaftsdelegationen, ließ man politische Differenzen gerne außen vor, am besten ausgelagert in die berühmt-berüchtigten Menschenrechtsdialoge.
Dass es Olaf Scholz nun nicht nach Peking, sondern nach Tokyo gezogen hat (zugegebenermaßen auch mit einer großen Wirtschaftsdelegation), scheint eine weitere Manifestierung der neuen deutschen Indopazifik-Strategie zu sein. Die Einhaltung von universellen Regeln und die enge Absprache mit strategischen Partnern und befreundeten Staaten scheint inzwischen wirtschaftlichen Überlegungen vorzugehen.
Schon die alte Bundesregierung hatte im September 2020 erste deutsche Leitlinien für den Indopazifik vorgestellt. Im September 2021 wurde dann bereits eine erste Bilanz gezogen, die unter anderem auf einen EU-ASEAN-Gipfel während der deutschen Ratspräsidentschaft im Dezember 2021, auf die fortschreitende Diversifizierung der Wirtschaftsbeziehungen mit der Region und auf die enge Kooperation beim Thema Klimawandel Bezug nehmen konnte.
Ein ebenso folgerichtiger Schritt war auch die Ankündigung der Ampelparteien in ihrem Koalitionsvertrag, regelmäßige Regierungskonsultationen zwischen Deutschland und Japan zu etablieren. Scholz‘ Besuch bei seinem Amtskollegen Kishida Fumio könnte nun ein weiterer Schritt in diese Richtung sein. Beide Seiten einigten sich darauf, ein solches regelmäßiges Format, wie es zum Beispiel auch schon mit China oder auch Indien besteht, im kommenden Jahr einzuführen.
In Deutschland wurde die Reise von der Opposition deshalb verurteilt, weil der Kanzler nicht an der symbolisch wichtigen Bundestagsabstimmung über die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine teilnehmen konnte. Dennoch sendet die Reise gerade auch im Kontext des russischen Angriffskriegs zwei wichtige Botschaften an den strategischen Partner Japan:
Deutschland und die EU haben trotz der Entwicklungen in Europa den Indopazifik nicht aus den Augen verloren. Die Implikationen, die der russische Angriffskrieg auch für ein Land wie Taiwan haben könnte, werden weiter diskutiert und es wird nach Möglichkeiten der Entspannung gesucht.
Japan, das ähnlich wie Deutschland an einem außenpolitischen Scheideweg steht, bekommt durch die Vorzugsbehandlung zumindest symbolische Unterstützung bei der strategischen Diplomatie, die seit einigen Monaten verfolgt wird.
Das Ende des japanischen Pazifismus?
Sooft der Vergleich zur deutschen Zeitenwende von mir auch schon bemüht wurde, so passend bleibt er doch. Denn die vergangenen Wochen haben in Japan (wie auch hier ausgeführt) die Weichen für einige substantielle Veränderungen in der Außenpolitik gestellt. Die Regierung in Tokyo scheint sich mit dem Gedanken anzufreunden, in stärkerer Eigenverantwortung die Sicherheitsarchitektur in der Region zu gestalten. Dazu wird ohne Zweifel auch eine stärkere militärische Verantwortung gehören. Seit Jahrzehnten war die Erhöhung des Militärbudgets zwar eine Kernforderung der regierenden LDP. Aufgrund der ablehnenden öffentlichen Meinung war eine Umsetzung jedoch grundsätzlich auch innerhalb der Regierung umstritten.
Inzwischen scheint sich allerdings die öffentliche Meinung zu Japans „pazifistischer“ Verteidigungspolitik verändert und der konservativen bis nationalistischen Position angenähert zu haben. Laut einer von Asahi Shimbun veröffentlichten Umfrage sind 64% der Befragten der Meinung, dass Japan seine Verteidigungskapazitäten stärken sollte. Nur 10% sind gegen einen solchen Schritt. Dieser Wert können aufgrund des Umfragezeitraums auch auf die Entwicklungen in der Ukraine zurückgeführt werden und stellt die höchste Zustimmung seit Jahrzehnten dar.
Im Verständnis der japanischen Regierung spielen auch europäische Länder wie Deutschland eine zunehmend wichtige Rolle in der Verteidigungspolitik. Angefangen bei den sogenannten 2+2-Treffen über den Besuch von deutschen Marineschiffen in japanischen Häfen bis hin zu strategischen Planungen bei der Energiesicherheit kommen hier zahlreiche Aspekte zusammen.
Deutschland gilt dabei, trotz vielleicht eher geringer militärischer Präsenz in der Region, als einer der verlässlichsten Partnerstaaten. Jahrzehntelange enge Wirtschaftsbeziehungen und die oftmals ähnliche Zielsetzung in multilateralen Kontexten dürften zu einem vertraulichen Verhältnis beigetragen haben.
Diplomatie des Status Quo
Aus japanischer Sicht ebenfalls interessant dürfte der Besuch von Indiens Premier Narendra Modi für Regierungskonsultationen in Berlin diese Woche gewesen sein. Sowohl deutsche als auch japanische Politikerinnen und Politiker zeigen sich derzeit bemüht, Indien in einer größeren Anti-China-Koalition zu halten, was gerade aufgrund der indischen Haltung zum Ukraine-Krieg eine Herausforderung darzustellen scheint. Auch der Grüne Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer, ein viel zitierter China-Kritiker, weist auf die strategische Bedeutung Indiens im Umgang mit China hin und plädiert für eine nachsichtige Haltung gegenüber Neu-Delhi. Eine Aussage, die man so auch von einem LDP-Außenpolitiker in Tokyo erwarten könnte.
Während der deutsche Kanzler Scholz also Modi empfing, reiste der japanische Premierminister Kishida nach Vietnam, einem weiteren Land mit traditionell engen Beziehungen zu Russland und einer ablehnenden Haltung gegenüber China. Auch hier wurde von Kishida, den Moskau übrigens gerade diese Woche persönlich sanktioniert hat, die russische Aggression nicht allzu offen angesprochen. Stattdessen gab es folgende Äußerung während der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem vietnamesischen Regierungschef Pham Minh Chinh:
Wir haben bekräftigt, dass sich Länder an den Grundsatz der Achtung der Unabhängigkeit und Souveränität von Staaten halten müssen. In jeder Region ist es nicht hinnehmbar, den Status quo mit Gewalt zu verändern.
Zum einen schafft Kishida es so, Vietnams eigene Sorgen über Chinas Expansionspolitik im südchinesischen Meer und die Verletzung vietnamesischer Souveränität mit den Ereignissen in der Ukraine zu verbinden, ohne die neutrale Haltung gegenüber Russland zu kritisieren. Zum anderen wird klar, dass sich Japan hier als Status-Quo-Macht positioniert, die – im Gegensatz zu China – vor allem an einer Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Verhältnisse interessiert ist. Und auch hier kommt die Nähe zu Deutschland, der europäischen Status Quo Macht par excellence, wieder zum Vorschein.
Weitere relevante Reisen in diesen Tagen umfassen den Besuch von Kishida in Italien am Mittwoch und den EU-Japan-Gipfel in Tokyo in der kommenden Woche (Kommissionspräsidentin von der Leyen und Ratspräsident Michel werden dort auch vor Ort sein).
Buchrezension: Ein Blick von außen.
Das Seidenraupenzimmer. Von Murata Sayaka. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Aufbau Verlag, 256 Seiten. Preis: 8,99 € (als digitales E-Pub) bzw. 12 € (als Taschenbuch).
Ein hilfsbereiter Stoffigel, eine Familienreise zur Verwandtschaft in die japanische Provinz, die sommerlich-festliche Stimmung des Obon-Fests im August. Der Anfang von Murata Sayakas Roman „Das Seidenraupenzimmer“ fällt erst einmal unspektakulär aus. Die Lesenden begleiten die Grundschülerin Natsuki auf dieser Reise und scheinen sich auf diesen initialen Seiten beinahe in Sicherheit wiegen zu können, trotz der kurvenreichen Straßen auf dem Weg zum großelterlichen Haus in den Bergen Naganos. Auf den ersten Blick ist alles etwas weniger radikal als im Vorgängerroman „Die Ladenhüterin“, der die Erfahrung einer vollständigen Entfremdung von der Gesellschaft durch die Augen einer Angestellten eines Convenience Store beleuchtet.
Doch dieser erste Eindruck täuscht. Denn die Entfremdung, die Natsuki und ihr gleichaltriger Cousin Yu erleben, ist in ihrer Konsequenz noch viel bedrückender, als es das jahrzehntelange Einräumen von Onigiri und PET-Flaschen in Kühlregale je sein könnte. Schritt für Schritt erfährt man, wie bösartig die Welt für Kinder sein kann – und wie sehr Menschen sich an die Kälte der eigenen Familie und der weiteren Gesellschaft gewöhnen können.
Nicht nur, dass Natsuki durch ihre Mutter regelmäßige Ablehnung und Demütigung erfährt. Da ist auch der Nachhilfelehrer, der sie regelmäßig nach Ende des Unterrichts zurückhält und sie sexuell missbraucht. Oder der Hass, der ihr durch die eigene Schwester entgegenschlägt. Natsuki ist traumatisiert und nicht in der Lage, ihre Erfahrungen mit der abweisenden Außenwelt zu teilen. Dass Cousin Yu ebenfalls Schlimmes durchgemacht haben muss, erfährt man schrittweise durch die kindlich-präzise Beobachtungsgabe der Protagonistin.
Yu und Natsuki beschließen, die ihnen entgegenschlagende Kälte durch radikale Maßnahmen zu verdrängen. Und sie stellen für sich fest, dass sie nicht von der Erde stammen, sondern vom Planeten Popinpobopia. Und das ist es ja nur selbstverständlich, dass die beiden die Gepflogenheiten der Erdbewohner nicht wirklich verstehen können. Sie können sich nur wundern über diese „Fabrik“, die die Menschen zwingt, sich fortzupflanzen, also praktisch am laufenden Band Nachwuchs zu produzieren. Und der Beschluss, der Fabrik nicht die Kontrolle über die eigenen Körper zu geben, ist gefallen. Durch die Eltern werden die beiden jedoch auseinandergerissen. Und das Wiedersehen nach Jahrzehnten bietet aus Sicht der Familie und der „Fabrik“ weiterhin Konfliktpotenzial.
Die radikalen Konsequenzen, die hier aus der Entdeckung des Andersseins gezogen werden, grenzen die Ereignisse dieses Romans weiter von Muratas Vorgängerwerk ab. Zwar bietet auch „Das Seidenraupenzimmer“ eine genaue Studie oft absurder Rollenbilder, die Frauen und auch Männern keine Luft zum Atmen lassen. Die Autorin lässt erneut vor allem die betroffene Protagonistin selbst zu Wort kommen, die mit einer magisch wirkenden Perspektive der Gewalt einen fabelhaften Anstrich verpasst. Lesende müssen also immer wieder selbst entschlüsseln, was sich tatsächlich im Laufe der Handlung ereignet.
Die Geschichte von Hilflosigkeit und der Suche nach Überlebensmechanismen wirft aber auch ein Schlaglicht auf eine Gesellschaft, die nur allzu gerne Probleme ignoriert. Entfremdung, Isolation und die Überforderung mit den Ansprüchen der Gesellschaft sind Erfahrungen, die in Japan sicherlich stark ausgeprägt sein mögen. Es wäre aber zu einfach, ähnliche Probleme nicht auch in anderen Gesellschaften sehen zu wollen.
Bemerkenswert ist zudem die Bedeutung der verschiedenen Handlungsorte. Während die triste Vorstadt Tokyos für Natsuki die Inkarnation der Fabrik darstellt, ist das abgelegene Haus der Großeltern im bergigen Nagano ein Zufluchtsort, der sie zumindest kurzzeitig vor der Gesellschaft schützt. Hier befindet sich, neben anderen magischen Orten, auch das im deutschen Titel auftauchende Seidenraupenzimmer. Dass in diesem Haus, außerhalb der Zivilisation, der Roman seinen absurd-dramatischen Höhepunkt erfährt, ist dabei nur folgerichtig.
„Das Seidenraupenzimmer“ ist, wenn auch erst auf den zweiten Blick, erstaunlich schwere Kost. Dennoch ist es eine hervorragende Lektüre. Die gut 200 Seiten lassen sich an einem entspannten Wochenende gut durchlesen, denn der Stil von Murata ist so einfach wie humorvoll. Die nie moralisierend vorgetragenen Traumata der handelnden Figuren werden allerdings noch deutlich länger in Erinnerung bleiben.
Weitere Rezensionen zu dem Roman finden sich hier.
Meine Rezension zum Roman “Die Ladenhüterin” von Murata Sayaka gibt es hier.
Und zum Schluss…
Soweit war es das für diese Woche. Kommentare, Themenvorschläge oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bei Paywall-Problemen in verlinkten Artikeln stehe ich gerne mit Hilfe bereit. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!