Ausblick 2022/08: Wie eine Krabbe zwischen Wahlen
Nach einwöchiger Pause gibt es heute die aktuelle Ausgabe der Kollaboration "Fokus Japan". Außerdem ordnen wir die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen in Südkorea ein.
Und damit herzlich willkommen. Nicht nur aufgrund des Kriegs in der Ukraine musste die Ausgabe am letzten Freitag spontan ausfallen. Heute dafür eine volle Ausgabe. Mit dabei: die vorgezogene März-Ausgabe von Fokus Japan in Zusammenarbeit mit Polis180. Was bedeutet der russische Angriffskrieg für die Sicherheit in Ostasien und für Japans Außenpolitik? Außerdem ordnen wir das äußerst knappe Ergebnis der südkoreanischen Präsidentschaftswahl ein. Hat etwa der Antifeminismus den Wahlsieg für die Konservativen gebracht?
Fokus Japan, März 2022: Zeitenwende auch in Tokyo?
Während die deutsche Bundesregierung als Konsequenz des russischen Angriffs auf die Ukraine eine “Zeitenwende” eingeläutet hat, haben sich auch in Japans Außen- und Sicherheitspolitik bemerkenswerte Kursänderungen ergeben. Der Blick richtet sich nun auf die Autonomie Taiwans. Tokyo versucht mittlerweile, eigene geopolitische Ziele klarer zu formulieren. Gleichzeitig zögert die Regierung, sich zu offensiv zu positionieren und alte Denkmuster komplett abzulegen.
Viele Beobachterinnen und Beobachter der japanischen Haltung im Russland-Ukraine-Krieg haben in den vergangenen Tagen die erstaunlichen Veränderungen in Tokyos ansonsten eher zurückhaltender Außenpolitik hervorgehoben. Die schnelle Verurteilung des völkerrechtswidrigen Einmarschs, die volle Unterstützung für finanzielle Sanktionen und die militärischen Hilfslieferungen an die Ukraine, Ausfuhrbeschränkungen für Halbleiter und andere kritische Produkte: All diese Schritte sollen dazu dienen, Russland international zu isolieren. Und sie könnten im Falle Japans mehr als bloße Signalwirkung haben, wenn diese Maßnahmen von einer der wichtigsten Volkswirtschaften der Welt ausgesprochen werden.
Allerdings hatte sich diese Entwicklung über die letzten Wochen und Monate vor Russlands Eskalation bereits abgezeichnet. So hatte die Regierung von Premierminister Kishida Fumio bereits die seit Jahren stagnierenden Gespräche über eine Rückgabe der Kurilen an Japan auf Eis gelegt, mit dem Verweis auf Russlands wachsende Militarisierung der umstrittenen Territorien. Verbunden wurde dieser Schritt mit der festen Ansicht, die Gebiete gehörten zum japanischen Staatsgebiet. Damit hat Kishida eines der liebsten Projekte seines Amtsvorgängers und politischen Ziehvaters Abe Shinzo weit nach hinten in den Giftschrank geschoben.
Abe, weiterhin einflussreich als Vorsitzender der größten Parlamentsgruppe der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) im Unterhaus, bot seinem Nachfolger derweil Rückendeckung, indem er nach Beginn des Angriffskriegs nicht nur das russische Vorgehen verurteilte, sondern den Blick direkt zu der aus Japans Sicht viel dringenderen Taiwan-Frage lenkte. Abe sprach auch gleich zwei Elefanten im Raum an: erstens, es solle keine strategische Ambiguität bezüglich Taiwan durch die amerikanische Regierung mehr geben; zweitens, Japans müsse nun amerikanische Atomwaffen im Land stationieren und damit zur Sicherung der Region beitragen. Denn die Entwicklungen in Osteuropa haben den Staaten Ostasiens einmal mehr das fragile Gleichgewicht in ihrer Region vor Augen geführt. Der komplexe völkerrechtliche Status Taiwans und die unterschiedlichen Positionen von China und Japan bereiten Beobachtern und den Regierenden seit langem Kopfzerbrechen.
Bezüglich des Bekenntnisses zu Taiwans Autonomie erscheinen die Forderungen Abes nur folgerichtig. Tokyo hat historisch gewachsene, enge Verbindungen nach Taipeh. Gerade aber durch die wachsende Drohkulisse der expandierenden Volksrepublik China sind die beiden Inseldemokratien seit den japanisch-chinesischen Auseinandersetzungen über die Senkaku-Inseln 2010 trotz eigener bilateraler Unstimmigkeiten enger zusammengerückt. Ungeachtet der fehlenden diplomatischen Anerkennung Taiwans haben japanische Regierungsmitglieder und Politikerinnen immer wieder die Grenze der chinesischen Geduld ausgereizt. Erinnert sei etwa an den Fauxpas, als Ex-Premier Suga Yoshihide den Nachbarn Taiwan während einer Parlamentsdebatte im Sommer letzten Jahres einfach mal als „Land“ bezeichnete. Oder die Tatsache, dass mit Takaichi Sanae – ebenfalls eine politische Ziehtochter von Abe Shinzo – eine der einflussreichsten Politikerinnen der LDP im Zuge ihrer Kandidatur für den Parteivorsitz 2021 ein digitales Treffen mit Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen abhielt.
Diese Entwicklungen schon vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine zeigen: Tokyo sucht aktiv nach Vorwänden, um die enge, aber inoffizielle Allianz mit Taiwan auf ein sicheres Fundament zu stellen. Trotz der rhetorischen Unterstützung fehlt bisher ein klarer gesetzlicher Rahmen, der Japan verpflichten würde, Taiwan im Ernstfall militärisch zur Seite zu stehen. Anders als für Washington gibt es für Tokyo kein Äquivalent zum amerikanischen Taiwan Relations Act, der das Vorgehen in einem potenziellen „Bündnisfall“ rechtlich definieren würde.
Alle Zeichen, vor allem die weitgehend einige LDP-Elite, geben eine klare Richtung vor: Japan möge sich eindeutiger zu Taiwan bekennen. Die Freiheit der Insel wird in auch Tokyo als wichtige Rückversicherung gegen Chinas wachsende Aggression gesehen. Und wie eine Zeitenwende aussehen könnte, betrachtet man aus der Entfernung derzeit genau: Die deutsche Kehrtwende in der Rüstungspolitik nach Russlands Überfall auf die Ukraine treibt nämlich auch Japans Regierung seit Wochen um – und sie könnte letztendlich als Blaupause für eigene politische Umwälzungen dienen.
Wie weit Japan jedoch tatsächlich gehen könnte, muss auch mit Hinblick auf den „Friedensartikel 9“ der Verfassung erst noch austariert werden. Hier wird die Regierung Kishida rechtliche wie auch politische Überzeugungsarbeit leisten müssen, um bei stärkeren militärischen Zusicherungen für Taiwan und einen demokratischen Indopazifik keinen offenen Verfassungsbruch zu begehen.
Ein solcher Schritt würde ein eindeutiges Signal in Richtung China senden. Bereits jetzt ist für Peking klar: Die Opportunitätskosten für eine Invasion Taiwans sind nach dem russischen Überfall auf die Ukraine gestiegen. Taiwan ist für Japan und andere verbündete Staaten relevanter denn je, sowohl wirtschaftlich als auch strategisch.
Dass trotz der scheinbaren Zeitenwende in Tokyo nicht alles neu definiert wird, zeigt auch die Zurückhaltung Kishidas bezüglich der zweiten Forderung von Abe Shinzo: der Aufnahme Japans in den nuklearen Schutz der USA. Hier hat Premier Kishida bereits eine rote Linie gezogen. Die Stationierung amerikanischer Atomwaffen in Japan sei „völlig inakzeptabel“. Einige alte Denkmuster werden also auch in Japan weiter Bestand haben.
—
In der monatlichen Reihe Fokus Japan werden aktuelle Themen aus der japanischen Politik und Gesellschaft aufgegriffen und hintergründig aufgearbeitet. Fokus Japan ist eine Kooperation zwischen Polis180, dem Polis-Programmbereich connectingAsia und dem Newsletter Ausblick Ost von Lars Feyen.
Weitere Ausgaben:
Teil 2: Wenn die Zugbrücke hochgeht
Teil 3: Auf dem Schlachtfeld der Geschlichte
Wahlen in Südkorea: Was ein Präsident Yun Seok-yeol bedeuten könnte
Ein knapper Wahlausgang hatte sich mit einem Blick auf die jüngsten Umfragewerte zwar abgezeichnet. Dass es so knapp werden und der Gewinner weit nach 1 Uhr nachts koreanischer Zeit feststehen würde, hat dann selbst erfahrene Beobachterinnen überrascht.
Doch in der Nacht zu Donnerstag stand fest: der konservative Kandidat Yun Seok-yeol setzte sich mit weniger als einem Prozent Vorsprung gegen den Kandidaten der regierenden Demokratischen Partei, Lee Jae-myung, durch.
Die Wahl war hier in den letzten Wochen immer mal wieder Thema. Dabei lag der Fokus vor allem auf den unzuverlässigen Umfragen und einem möglichen Wahlbündnis zwischen Yun und einem weiteren Kandidaten, dem gemäßigt konservativen Ahn Cheol-su. Folgende Entwicklungen gab es in den letzten Tagen des Wahlkampfs:
Ahn hatte seine Kandidatur tatsächlich zugunsten von Yun aufgegeben. Er kündigte Anfang Februar an, sowohl seine Ambitionen auf das Blaue Haus aufzugeben als auch seine Partei in der Hauptpartei des konservativen Lagers aufgehen lassen zu wollen. Wenn man bedenkt, wie knapp der Sieg von Yun war, könnte man vermuten, dass ohne Ahns Unterstützung doch der Kandidat der regierenden Demokraten gewonnen hätte. Allerdings scheinen viele Unterstützer von Ahn Cheol-su ihre Probleme mit Yun gehabt zu haben. Viele dürften entweder gar nicht gewählt oder sogar für Lee Jae-myung gestimmt haben.
Yun wird als Präsident übrigens keine Mehrheit im Parlament haben. Hier dominieren weiterhin die Demokraten. Sie verfügen mit ihren verbündeten Parteien seit den Parlamentswahlen von 2020 über eine äußerst komfortable Mehrheit von 180 der 300 Sitze in der Nationalversammlung. Die nächsten Wahlen werden erst 2024 stattfinden. Bis dahin werden viele Vorhaben von Yun durch die Legislative entscheidend ausgebremst werden können.
Was den Verlauf des Wahlkampfs angeht, muss die taktische Finesse der Konservativen vorgehoben werden. Tatsächlich haben Yun und seine Vertrauten eine Strategie des Kulturkampfs verfolgt: Yun hat immer wieder die Skandale thematisiert, die seinen Gegner Lee anhaften. Von fragwürdigen Immobiliendeals bis hin zu Korruptionsbeschuldigungen und angeblicher Nähe zum Kommunismus war da alles dabei. Eine Analyse der Suchbegriffe, die Internet-User im Zusammenhang mit den Kandidaten verwendeten, bestätigte: Leute, die nach Yun suchten, recherchierten direkt auch nach Lee Jae-myung und seinen angeblichen oder tatsächlichen Skandalen. Dreckig, aber effektiv.
Und Yun konnte eine Kernzielgruppe für diese Wahl motivieren: junger Männer unter 30, die sich als offen “antifeministisch” bezeichnen. Basierend auf ökonomischen Notlagen und dem vagen Gefühl, dass in den letzten Jahren Frauen zu viel Aufmerksamkeit von der Politik erhalten hätten, hat sich hier tatsächlich eine politische Kraft entwickelt, die zumindest knappe Wahlsiege herbeiführen kann. Yun Seok-yeol hatte etwa in sozialen Medien immer wieder Memes verbreitet, die etwa eine Abschaffung des Gleichstellungsministeriums forderten. Dem konservativen Kandidaten spielte bei seiner Taktik auch das Wahlsystem in die Hände: schließlich reicht es für einen Bewerber, die meisten Stimmen auf sich zu vereinen. Mit einem Ergebnis von knapp 49 % ist aber auch klar, dass eine knappe Mehrheit Yun nicht unterstützen wollte.
Das Ergebnis des Demokraten Lee ist trotz aller Umstände eine Katastrophe für die Demokraten und Amtsinhaber Moon. Befragungen der letzten Monate haben bescheinigt, das die große Mehrheit der Menschen in Südkorea ihn für deutlich kompetenter hält als Yun Seok-yeol. Lee hatte populäre Forderungen wie etwa eine bessere Regulierung der explodierenden Immobilienpreise in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes gestellt. Dass er trotz einer guten Themensetzung und seiner scheinbaren Kompetenz nicht gewonnen hat, zeigt die Frustration der Kernwählergruppen im Mitte-Links-Lager. Das mag vor allem an der bescheidenen Bilanz des nun scheidenden Präsidenten Moon Jae-in liegen. Weder außenpolitisch im Umgang mit Nordkorea noch bei der innenpolitischen Bekämpfung von Geschlechterungleichheit oder anderer sozialer Fragen hat die Mitte-Links-Regierung nennenswerte Erfolge vorzuweisen. So muss der selbsternannte “erste feministische Präsident”, der mit großer Zustimmung 2017 ins Amt gespült wurde, mit leeren Händen abtreten. Ihm folgt nun mit Yun vielleicht der “erste antifeministische Präsident”.
Nächste Woche mehr zu den internationalen Implikationen des Wahlergebnisses.
Weiterführend:
Ich habe am Tag der Wahl bei detektor.fm den tagesaktuellen Podcast “Zurück zum Thema” moderiert. Bei uns stand der Antifeminismus und die Wahl in Südkorea im Mittelpunkt. Unter anderem haben wir mit der ARD-Korrespondentin in Ostasien, Kathrin Erdmann, über den Wahlkampf und die politische Stimmung in Südkorea gesprochen. Die Folge gibt es hier:
Beim Thinktank Polis180 haben wir vor der Wahl eine längere Interview-Folge unseres Podcasts “Spotlight Asia” mit dem südkoreanischen Politikwissenschaftler In Young Min aufgenommen. Die Folge gibt es hier zum Nachhören:
Das wars für heute. Kommentare oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!