Ausblick 2022/02: Zeitenwende im Pazifik?
Warum die Präsidentschaftwahl in Chile für den Indopazifik bedeutsam sein könnte. Außerdem: Wahlen in Südkorea und auf den Philippinen.
Ausblick Süd: Was Chiles Präsidentschaftswahl für den Freihandel im Pazifik bedeutet
Während der Trump-Jahre war Chile eines der Länder, die die Überreste des Freihandelsabkommens Trans-Pacific Partnership (TPP) aufrecht erhalten wollten. Wird Gabriel Boric als neuer Staatspräsident nun umdenken?
Die Gratulation war erstaunlich unspektakulär, als Chiles neu gewählter Präsident Gabriel Boric Mitte Dezember digital seinen Vorgänger, den konservativen Sebastián Piñera, traf. Nach ein paar Glückwünschen und gegenseitigen Respektbekundungen gingen die politischen Gegner direkt zur Tagesordnung über: die anstehende Amtsübergabe. Das bedeutete unter anderem auch die direkte Einbindung des gewählten Präsidenten in die alltäglichen Aufgaben des Präsidentenpalastes La Moneda. Und zu denen gehört auch die Außenpolitik des südamerikanischen Landes.
Derzeit fragen sich viele internationale Beobachter, wie der ehemalige Studierendenführer und Ex-Kommunist Gabriel Boric eines von Lateinamerikas reichsten – wenn auch mit ausgeprägter Ungleichheit ausgestatteten – Ländern lenken wird.
Befürchtungen der Konservativen, Boric werde Chiles robuste Wirtschaft in ein gescheitertes System wie Venezuela verwandeln, dürften sich als unbegründet herausstellen. Im Gegensatz zu Hugo Chávez oder Nicolás Maduro hat Boric nie antidemokratische Tendenzen gezeigt. Die chilenische Wirtschaft ist zwar ebenso wie Venezuela überproportional von einem einzigen Rohstoff abhängig – wenngleich es hier Kupfer und nicht Erdöl ist – aber im Gegensatz zum beliebtesten Negativbeispiel für linke Politik in Lateinamerika ist Chiles Wirtschaft deutlich diversifizierter, die staatlichen Institutionen sind trotz ihrer Defizite stabil und die politischen Mehrheitsverhältnisse in Kongress und Senat erlauben keine Alleingänger für das neue Staatsoberhaupt. Auch Borics Rhetorik vor dem zweiten Wahlgang klang deutlich mehr nach gemäßigter europäischer Sozialdemokratie als nach sowjetischer Zwangsverstaatlichung. “Chilezuela” wird nicht kommen.
Knackpunkt Außenpolitik
Eines der spannendsten Felder dürfte jedoch die künftige Außenpolitik Chiles sein. Gerade auch mit Blick auf Chiles Einbindung in die Freihandelsregime im Indopazifik sollte ein genauerer Blick in das Regierungsprogramm von Gabriel Boric und seinem Führungsteam für Beobachterinnen und Beobachter des Indopazifik von Interesse sein.
Multilateralismus und “Süd-Süd-Beziehungen”
Für die lateinamerikanische Linke ist das Schlagwort „Süd-Süd-Beziehungen“ seit Jahrzehnten beliebt. Gleichzeitig ist der Begriff offensichtlich definierungsbedürftig, da darunter teilweise etwas krude Vorstellungen von den internationalen Machtverhältnissen eingeordnet werden, die teilweise in den 1970er Jahren stehen geblieben zu sein scheinen.
So hatte 2018 der Gegenkandidat von Jair Bolsonaro in den brasilianischen Präsidentschaftswahlen, der Nominierte der Arbeiterpartei Fernando Haddad, die Bedeutung dieser „Süd-Süd-Beziehungen“ zwischen Entwicklungsländern hervorgehoben – und darunter direkt auch die Beziehungen zur Volksrepublik China, der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt, eingeordnet.
Diesen kreativen Ausrutscher kann Boric in seinem Programm gar nicht begehen – so findet China doch nur eine einzige Erwähnung in den 229 Seiten des Regierungsprogramms (und auch nur im Kontext des amerikanisch-chinesischen Handelskonflikts).
Immerhin wird davon gesprochen, dass Chiles Außenpolitik multilateral geprägt sein soll. Bestehende Beziehungen jeglicher Art sollen vertieft werden vor dem Hintergrund internationaler Unsicherheit. Allerdings betont das Programm auch die Notwendigkeit größerer nationaler Autonomie, um Abhängigkeiten und Krisen vorzubeugen.
Freihandel und internationale Wirtschaftsverbindungen
Bedeutet das auch eine Abkehr vom Freihandel? Chile war schließlich nach Amtsantritt von Donald Trump neben Japan eines der wichtigsten Länder, die das TPP-Abkommen auch ohne Washington umsetzen wollten. Die Unterzeichnungszeremonie des verkleinerten Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP) fand konsequenterweise im Januar 2018 in Chiles Hauptstadt Santiago statt. CPTPP umfasst derzeit 11 Staaten von Vietnam über Australien und Japan bis Kanada, Mexiko und eben auch Chile. Das Handelsabkommen umfasst durch seine Mitglieder etwas über 13 % des weltweiten Bruttoinlandsprodukts. Doch dieses Abkommen findet keine Erwähnung in den Plänen von Gabriel Boric.
Beim Freihandel soll es dem Programm zufolge ein Umdenken geben. So habe Chile seit den 1990er Jahren viele Freihandelsabkommen mit reichen und entwickelten Staaten abgeschlossen. Nun müssten diese Abkommen in gewissen Punkten „angepasst“ werden, um ein Gleichgewicht zwischen den Staaten herzustellen. Die Abhängigkeit Chiles von internationalen Lieferketten wird hier auch problematisiert, wobei direkt eine mögliche Lösung erörtert wird. Zitat (meine Übersetzung):
Für ein Land, das vom internationalen Handel so abhängig ist wie Chile, bietet der Wandel in den Wertschöpfungsketten die Möglichkeit, seine Beteiligung zu verbessern, indem es [Chile] sein Netz von Handelsabkommen nutzt; aus diesem Grund schlagen wir vor, die Einbindung der lateinamerikanischen Wirtschaft und des Handels zur Erleichterung der Bildung von regionalen Wertschöpfungsketten voranzutreiben.
Lateinamerikanische Integration ist das Stichwort. Der Begriff „Freihandel“ wird übrigens im gesamten Dokument genau einmal erwähnt.
Fokus auf Klimaschutz
Als erste Regierung in der Geschichte Chiles wird sich die Administration Boric als „Klimakabinett“ verstehen. Dafür soll ein sogenannter „Klimanotstand“ erklärt und ein souveräner Staatsfonds eingeführt werden, der finanzielle Mittel für die Transformation der Energiewirtschaft und der Wirtschaft allgemein sammelt und bereitstellt. Eine Kommission soll die Belastung für verschiedene Branchen und Bevölkerungsgruppen evaluieren und die Bürden des Wandels entsprechend gerecht verteilen. Es soll zudem ein zentrales System zum Schutz des Ozeans – sprich des Pazifiks in chilenischen Hoheitsgewässern – gegründet werden. Im Abschnitt zum Klimaschutz oder im Rest des Dokuments finden internationale Abkommen wie etwa das Pariser Abkommen keine genaue Erwähnung. Für die Regierung Boric scheint der Klimaschutz also offiziell kaum eine internationale Dimension zu haben.
Dennoch müsse Chiles Außenpolitik nun türkisfarben werden – grün für den Schutz der Natur und blau für den Schutz der Ozeane.
Fazit:
Die chilenische Außenpolitik könnte sich, sollte das Programm des neuen Präsidenten umgesetzt werden, vom Indopazifik abwenden. Zwar möchte man eine „lateinamerikanistische“ Außenpolitik vorantreiben und so die regionale Integration stärken. Gleichzeitig erhofft man sich jedoch durch grundlegende Wirtschaftsreformen mehr Autonomie von internationalen Handelsketten und reicheren Staaten.
Ohne die Pläne dieser Länder hier bewerten zu wollen, sollte diese Entwicklung für Länder wie Japan oder Südkorea als alarmierendes Vorzeichen verstanden werden. Sollte Chile bald weniger fest zur ökonomischen Integration im Indopazifik stehen, hätte man einen gleichgesinnten Staat weniger beim Entwurf eines freien, nicht von Chinas Expansionismus geprägten Indopazifiks. Das sollte vor allem dann bedeutsam werden, falls sich die USA ab 2024 während einer zweiten Präsidentschaft von Donald Trump noch weiter von internationalen Angelegenheiten zurückziehen sollten.
Gleichzeitig sollte beobachtet werden, wie sich Chiles Pläne zum Schutz des Pazifiks in Zukunft ausgestalten könnten. Außerdem wichtig: Da Borics Regierungsprogramm gerade im Bereich Außenpolitik sehr ungenau bleibt, ist hier jede Menge Spielraum für die neue Regierung, um pragmatische Lösungen zu finden, die den in den letzten Jahrzehnten gewählten Kurs des Landes im internationalen Kontext fortsetzen könnten.
Wahlmonitor 2022: Südkorea und Philippinen
Inzwischen sind es weniger als 50 Tage bis zu den Präsidentschaftswahlen in Südkorea. Die Kandidatin der linken Gerechtigkeitspartei, Sim Sang-jeong, hat aufgrund schlechter Umfragewerte derweil ihre Kampagne aufgegeben. Ein weiterer Drittkandidat, Ahn Cheol-su von der Mitte-Rechts-Gruppierung Volkspartei erreicht dagegen immer höhere Werte und konnte in einzelnen Umfragen nun 17 % erreichen. Hier ist zu beachten, dass schon länger spekuliert wird, dass Ahn sich letztendlich mit dem Konservativen Hauptkandidaten Yun Seok-yeol zusammentun wird.
Yun liegt in vielen Umfragen derzeit noch hinter Lee Jae-myung, dem Kandidaten der derzeit regierenden Demokratischen Partei. Jedoch konnte er nach hitzigen Debatten und Anschuldigungen in den letzten Wochen ein wenig aufholen. Unter anderem war er dafür verantwortlich, dass in den sozialen Medien der Hashtag “Kommunismus zerstören” trendete - weil, nun ja, Präsident und das Mitte-Links-Lager aus Sicht der Konservativen nunmal identisch mit einem kommunistischen Unrechtsregime zu sein scheinen. In der kombinierten poll-of-polls von MBC liegt Yun tatsächlich knapp vor dem Kandidaten des Mitte-Links-Lagers (via Blue Roof):
Lee Jae-myung: 36.8 % (-2.8)
Yun Seok-yeol: 39.3 % (+4.9)
Ahn Cheol-su: 11.8 % (+2.4)
Jedoch zeigen eine ganze Reihe individueller und aktuellerer Umfragen einen relativ komfortablen Vorsprung für Lee. Es bleibt also spannend. Sollten Ahn und Yun ihre Lager aber tatsächlich zusammenlegen, hätte das konservative Lager gute Chancen, die Präsidentschaftswahl Anfang März zu gewinnen.
Südkorea ist nicht das einzige Land der Region, in dem dieses Jahr gewählt wird. Auch auf den Philippinen wählt man im Mai dieses Jahres ein neues Staatsoberhaupt. Der Präsident Rodrigo Duterte, der vor allem durch seine kontroverse Drogenpolitik international für Aufmerksamkeit sorgte, kann nach einer Amtszeit nicht erneut antreten. Er hinterlässt ein Land, in dem sich Arbeitsbedingungen für Journalistinnen und Journalisten in den letzten Jahren massiv verschlechtert haben. Und angeblich Drogenabhängige wurden vom Präsidenten praktisch für vogelfrei erklärt. So sind laut Human Rights Watch mit Berufung auf philippinische NGOs zwischen 8.000 und 30.000 Menschen von der Polizei seit 2016 ermordet worden. Der Internationale Strafgerichtshof hatte zwischenzeitlich Ermittlungen gegen die Philippinen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeleitet. Die katholische Kirche, die einen großen Einfluss auf die Öffentlichkeit in dem tief christlichen Land hat, verurteilte Duterte während seiner Amtszeit immer wieder scharf.
Wer auf Duterte folgen wird, ist noch offen. In den Umfragen liegt derzeit Ferdinand Marcos Jr., genannt Bongbong, jedoch deutlich vorne. Marcos ist der Sohn des ehemaligen Militärdiktators Ferdinand Marcos. Als Kandidatin für den Posten der Vizepräsidentin ist weiterhin Sara Duterte im Rennen. Sie ist die Tochter des jetzigen Staatsoberhaupts.
Die Umfragewerte der zwei wichtigsten erklärten Kandidatinnen für das Präsidentenamt (Stand Dezember 2021, via Rappler):
Senator Ferdinand „Bongbong“ Marcos Jr.: 53 %
Vizepräsidentin Leni Robredo: 20 %
Robredo trat 2016 übrigens gegen Marcos Jr. als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft an – und gewann knapp gegen ihn.
Dieser Bericht des philippinischen Nachrichtenportals Rappler erklärt nochmal, warum diese Umfragen noch keinen eindeutigen Sieg von Marcos vorhersagen können.
Und zum Schluss:
Der unterseeische Vulkanausbruch, der diese Woche in Tonga unter anderem einen Tsunami auslöste, hat für erstaunliche Satellitenbilder gesorgt. Offiziellen (und vorläufigen) Angaben zufolge sind wohl nur drei Menschen ums Leben gekommen. Die Auswirkungen waren aber bis Japan zu spüren, wo Behörden zwischenzeitlich Tsunami-Warnungen ausriefen. Die Situation in dem abgelegenen Südseestaat dürfte jedoch verheerend sein. Australien und Neuseeland haben bereits umfangreiche Hilfen in Aussicht gestellt. Die Internet- und Telefonverbindungen in Tonga könnten für bis zu zwei Wochen fast vollständig ausfallen.
Soweit war es das für diese Woche. Kommentare, Themenvorschläge oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bei Paywall-Problemen in verlinkten Artikeln stehe ich gerne mit Hilfe bereit. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!