Ausblick 2022/01: Südkorea Spezial
Zum Jahresbeginn blicken wir auf die politische Lage in Seoul vor der Wahl. Außerdem eine Buchrezension.
あけましておめでとう。新年快乐。새해 복 많이 받으세요! Willkommen zurück im neuen Jahr. Wir beginnen heute mit zwei Beiträgen aus Südkorea. Zuerst schauen wir, wie sich die Situation knapp zwei Monate vor der Präsidentschaftswahl verändert. Außerdem gibt es eine Buchrezension zum Buch “Kim Jiyoung, geboren 1982” von Cho Nam-Joo. Viel Spaß beim Lesen.
Wahlen in Südkorea - Moons Kalkül verändert die Lage
In Südkorea bereitet sich alles auf die Präsidentschaftswahlen am 9. März vor. Dabei hat es seit Mitte Dezember einige nennenswerte Entwicklungen gegeben.
Park wieder frei
Unter anderem hat der linksliberale Amtsinhaber Moon Jae-in seine präsidialen Amtsbefugnisse wahrgenommen und seine Vorgängerin, die konservative Ex-Präsidentin Park Geun-hye, begnadigt. Park wurde nach Massenprotesten Anfang 2017 ihres Amtes enthoben und zu einer zwanzigjährigen Haftstrafe verurteilt. Unter anderem hatte eine persönliche Vertraute (und Pferdeschamanin) finanzielle Zuwendungen von Privatfirmen wie Samsung eingesammelt, mit dem Hinweis auf ihre guten Verbindungen zur Präsidentin.
Gründe für die Begnadigung
Dass Moon nur etwa drei Monate vor der Wahl eine Vertreterin der politischen Konkurrenz begnadigt hat, überraschte viele Beobachterinnen und Beobachter. Doch der Schritt scheint sich auszuzahlen. Moon ist in seiner Amtszeit begrenzt, aber der Präsidentschaftskandidat von Moons Demokratischer Partei, Lee Jae-myung, konnte in den letzten Wochen in Umfragen aufholen – und befindet sich nun in einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem konservativen Bewerber Yun Seok-yol. Die Begnadigung von Ex-Präsidentin Park sei, so Moon, ein Zeichen „nationaler Versöhnung“. Parks Gesundheitszustand hatte sich zudem in den letzten Monaten immer weiter verschlechtert. Dass sie möglicherweise in Haft sterben könnte, wäre kein gutes Signal für das Strafvollzugsystems so kurz vor einer Richtungswahl.
Moon könnte auch ganz persönliche Motive gehabt haben: schließlich sind zahlreiche ehemalige Politiker und Ex-Präsidenten in Südkorea wegen Korruption zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Moon wolle, so einige ExpertInnen, seinem politischen Lager vor den Wahlen helfen und gleichzeitig die Zerrissenheit der konservativen Partei offenlegen. Im konservativen Lager spalten sich nämlich die Geister an der früheren Präsidentin.
Frieden mit dem Norden – trotz der Raketentests?
Außerdem strebt Noch-Präsident Moon weiterhin einen formellen Friedensvertrag mit Pjöngjang an. Nord- und Südkorea befinden sich seit dem Krieg von 1953 weiterhin offiziell im Krieg. Im Dezember gab es erneut ernsthafte Bestrebungen, den formellen Friedensschluss durchzuführen, auch die USA zeigten sich optimistisch.
Doch für erhebliche Unsicherheit so kurz vor der Wahl sorgen die wiederholten nordkoreanischen Tests von Raketen, die japanischen Medien zufolge eine Flugstrecke von über 700 Kilometern zurücklegen könnten. Aufgrund der militärischen Drohungen dürfte Moons lang ersehntes Ziel der zwischenstaatlichen Annäherung vor dem Ende seiner Amtszeit als Präsident kaum noch eine realistische Option sein.
Weitere Signale, dass eine Wahl bevorsteht
Finanzminister Hong Nam-ki kündigte weitere finanzielle Unterstützungen für kleinere Unternehmen an, um Verluste durch Pandemie-Maßnahmen auszugleichen.
Die öffentliche Meinung scheint zudem äußerst volatil zu sein: der konservative Kandidat Yun Seok-yol lag zwar noch gegen Ende 2021 deutlich vor Moons designiertem Nachfolger Lee; allerdings haben zahlreiche Probleme seines Wahlkampfteams ein eher negatives Licht auf Yuns Kandidatur geworfen. Außerdem hatte seine Frau im Dezember ein Fernsehinterview gegeben, in welchem sie zugab, große Teile ihres Lebenslaufs frei erfunden zu haben. Mehr dazu, und auch zur bizarren medizinischen Bedeutung von Haartransplantationen im Wahlkampf, gibt es im kostenlosen Blue Roof Newsletter.
Umfragen
Die aktuellsten Werte von MBC, eine gewichtete Darstellung basierend auf mehreren relevanten Umfragen, zeigen folgendes Bild für die Hauptkandidaten (im Vergleich zur letzten Umfrage):
Lee Jae-myung (Mitte-Links): 37.1 % (+1.6 %)
Yun Seok-yol (Konservativ): 30.5 % (+0.8 %)
Sim Sang-jeong (linksliberal): 4.0 % (-0.1 %)
Ahn Cheol-su (moderat-konservativ): 13.6 % (+ 5.2 %)
Der Vorsprung des Demokraten Lee auf den Konservativen Yun ist in den letzten Wochen konstant gewachsen. Wir werden vor der Wahl auch die beiden weiteren Kandidatinnen, Sim und Ahn, noch einmal näher vorstellen und in die südkoreanische Parteienlandschaft einordnen.
Feministischer Aufschrei: Eine Buchrezension zu Kim Jiyoung, geboren 1982
Geschrieben zusammen mit Swaantje Otto
Kim Jiyoung, geboren 1982. Von Cho Nam-Joo, übersetzt aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Kiepenheuer & Witsch; 208 Seiten; 14,99€ (E-Book) bzw. 18€ (gebundene Ausgabe)
Kim Jiyoung scheint den Verstand zu verlieren. Immer wieder tritt sie als jemand anderes auf: mal nimmt sie die Identität einer alten Kommilitonin an, dann wiederum mimt sie ihre eigene Mutter vor der versammelten Familie ihres zu Tode beschämten Ehemannes.
Doch Jiyoungs scheinbarer Wahnsinn wird immer fassbarer und nachvollziehbarer, je weiter man in die Tiefen dieses hervorragenden wie unkonventionellen Romans vordringt. Soweit dargelegt, begegnen soziale Bezugspersonen Kim Jiyoungs ihren Verhaltensänderungen mit Sorge, Angst, Unverständnis, Wut, Scham und Ignoranz – und Hilflosigkeit. Denn eine Lösung für ihre und für andere drängende Problem bietet keine der Figuren.
Die ersten Szenen sind Schlüsselsituationen, auf die der Roman später teilweise Bezug nimmt und die bereits eine Reihe an Kriterien der hauptsächlich anhand Kim Jiyoungs Biographie entworfenen Kritik der Geschlechterordnung Südkoreas aufzeigen oder andeuten.
Notgedrungen lernt Jiyoung, verschiedene Anpassungsstrategien anzuwenden. In unterschiedlichen Lebenssituationen trifft sie auf weibliche Vorbildfiguren, deren Verhalten und Wirken ihr Zuversicht einflößen. Allerdings sind solche Erfahrungen in den Ausschnitten einer gesamtbiographischen Betrachtung dünn gesät.
Zunächst schildert der Roman Teile der frühen Kindheit Kim Jiyoungs, dann ihre Schulzeiten auf Grund- und Mittelschule und Gymnasium, ihr Studium, schließlich den Berufseinstieg und -ausstieg in einer mittelständischen Firma sowie ihre Heirat und Familiengründung. Dabei werden Übergänge zwischen verschiedenen Lebensphasen wie zum Beispiel der Übergang vom Mädchen zur Frau mit Einsetzen der Menstruation als krisenhaft und teilweise als traumatisch beschrieben. Damit geht wachsender sozialer und emotionaler Druck einher.
Dass die soziale Ordnung von Jiyoungs Welt von alltäglicher Ungerechtigkeit geprägt ist, unterstreichen auf scheinbar wissenschaftliche Weise auch die im Verlaufe der Geschichte eingestreuten Fußnoten, die die Grenzen zwischen unserer Realität und der Welt der Protagonistin aufbrechen. Sie verweisen auf sozialwissenschaftliche Studien, auf Zeitungsartikel und OECD-Berichte. Dass die Einkommensverteilung in Südkorea zwischen Männern und Frauen so ungleich ist wie in keinem anderen reichen Industrieland, spricht Bände. Und es ist nur eines der Symptome der für die Protagonistin und ihre Leidgenossinnen so unerträglichen Hilflosigkeit.
Die sensible und fantasiebegabte Protagonistin erlebt durch ihre sozialen Umfelder von Kindesbeinen an einen Mangel an Wertschätzung ihrer Persönlichkeit und ihrer Leistungen, der auf ihr Geschlecht zurückzuführen ist. Dass ihre Großeltern doch lieber einen Enkel als eine Enkelin gehabt hätten; dass der jüngere Bruder zuerst ein eigenes Zimmer bekommen soll; dass der Vater zuerst Jiyoung beschuldigt, als ein Mitschüler sie nach dem Nachhilfeunterricht belästigt und schlimmeres scheinbar nur durch die fremde Frau mit dem gelben Schal verhindert werden kann – all dies sind Episoden, die wütend und bestürzt zugleich machen. Und sie hauchen den kalten Statistiken ein bedrückendes Leben ein.
Doch Kim Jiyoung, deren Name in etwa das südkoreanische Äquivalent der so universellen wie anonymen Erika Mustermann ist, steht für mehr als nur ein Einzelschicksal. Sie verkörpert die gesammelten Erfahrungen der geschlechtsbasierten Diskriminierung. Und das erstaunliche Echo, dass diesen Roman nicht nur in Südkorea sondern auch in Europa oder Amerika begleitet hat, zeigt zugleich die grenzüberschreitende Bedeutung dieser Erzählung.
Eine Lösung für die strukturelle Unterdrückung von Frauen bietet der Roman nicht. Wie auch? Wie lassen sich jahrhundertelang einstudierte Rollenbilder aufheben und wie kann eine ernsthaft egalitäre Gesellschaft entstehen, in der Frauen ihren männlichen Kollegen morgens keinen Kaffee auf den Schreibtisch stellen müssen oder durch ihre Schwangerschaft ihre Karriere beenden sollen? Solche Gedanken lassen die Leserin und auch den Leser nachdenklich zurück nach gut 200 Seiten.
Doch nach all der Wucht, all dem Zorn und der Empathie, die über diese 200 Seiten entstehen konnten, schafft es dann ein einziger letzter Paragraph, die Gewissheit der Geschichte und das scheinbare Verständnis des Erzählers für die Protagonistin vollständig auf den Kopf zu stellen. Ein Geniestreich der Autorin, und zugleich ein gewollter Hochverrat. Ein eindrucksvolles Ende eines eindrucksvollen literarischen Hilfeschreis.
Weitere Rezensionen bei Perlentaucher.de.
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