2022/10: Sperrung auf der Seidenstraße?
Die Reise von Japans Premier Kishida verrät eine interessante Taktik gegenüber ASEAN. Außerdem: Rätselraten über Chinas Russlandpolitik.
Willkommen zur Ausgabe in einer Woche, in der Südkoreas neu gewählter Präsident Yun stolz im Live-Fernsehen den geheimen Standort eines strategisch wichtigen Bunkers der Weltöffentlichkeit verkündete, Taiwans Präsidentin Tsai Zoom-Gespräche mit ehemaligen japanischen Premierministern abhielt und Corona-Lockdowns in China die Spritpreise in den USA gesenkt haben sollen. Um all das wird es aber nicht gehen.
Stattdessen reisen wir mit Kishida Fumio auf wichtiger Mission nach Neu-Delhi und Phnom Penh und sortieren das Chaos der chinesischen Reaktionen auf Russlands Angriffskrieg in der Ukraine.
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Kishida unterwegs: Das strategische Kalkül einer Südostasien-Reise
Am 19. März war es soweit: Die Premierminister Indiens und Japans, deren Regierungen derzeit deutliche Gegenpositionen bezüglich Russland eingenommen haben, trafen in Neu-Delhi aufeinander. Für Japans Premier Kishida Fumio war dies der erste Teil einer Reise, die ihn auch nach Kambodscha führen sollte. Das bilaterale Treffen der Regierungschefs fand pünktlich zum 70. Jahrestag der diplomatischen Beziehungen zwischen Tokyo und Neu-Delhi statt. Nach den Reisebeschränkungen durch die Corona-Pandemie und den Massenprotesten in Indien im Jahr 2019, als ein Staatsbesuch von Amtsvorgänger Abe Shinzo abgesagt werden musste, war es das ranghöchste bilaterale Treffen seit langer Zeit.
Und Kishida konnte seinem indischen Counterpart, Narendra Modi, dann auch einen umfangreichen Blumenstrauß zur Begrüßung überreichen: der Wirtschaftszeitung Nikkei zufolge planen japanische Unternehmen Auslandsinvestitionen von umgerechnet 42 Milliarden Dollar im bald bevölkerungsreichsten Land der Welt. Neben einer besseren Verflechtung der beiden Wirtschaftsräume hat es Japan vor allem auch auf den Export von Hochgeschwindigkeitszügen abgesehen. Zudem betonten beide Seiten ihre gemeinsamen Interessen in Südchinesischen Meer, wo man den Einfluss Pekings begrenzen möchte. Engere Abstimmungen im Rahmen der Quad-Gruppe sind außerdem zu erwarten.
Soweit die angenehme Seite. Neben den zahlreichen Gemeinsamkeiten fiel vor allem die Wortwahl der offiziellen Mitteilung auf; auch bei einer gemeinsamen Pressekonferenz erlebte man die Konflikte der indischen und der japanischen Position gegenüber Russlands Angriffskrieg in der Ukraine. Modi rang sich zwar zu der gemeinsamen Aussage durch, dass jegliche einseitige Veränderung des Status Quo mit Gewalt nicht erlaubt sein dürfe. Ansonsten schwieg er jedoch. Ganz anders Kishida, der Moskaus Angriffskrieg einmal mehr verurteilte.
Zwar konnte Japan seinen strategischen Partner Indien nicht zu einem härteren Wording bewegen. Die Tatsache, dass Tokyo aber auch hier die Grenzen der Bequemlichkeit ausreizt, zeigt, für wie wichtig man eine klarere Positionierung Indiens und der gesamten Region hält.
Mehr gibt es hier zu Japans und Indiens Positionen.
Ebenso aufschlussreich war die anschließende Reise des japanischen Premiers nach Phnom Penh. Dass Kishida auch nach Kambodscha reiste, zeigt die strategische Bedeutung nicht nur des Landes, sondern auch des gesamten ASEAN-Bündnisses in der japanischen Außenpolitik.
Kambodscha ist ein relativ enger Verbündeter Chinas in der Region. Es gilt als eines der am wenigsten entwickelten Länder der Welt, hat die Armut unter der Herrschaft von Langzeit-Autokrat Hun Sen in den letzten Jahrzehnten aber so schnell reduziert wie kaum ein anderes Land der Welt. Kambodscha weist einen wichtigen Agrarsektor für den Export auf und hat laut einer von ASEAN in Auftrag gegebenen Studie ein hohes Potenzial, in Zukunft erneuerbare Energien in großem Umfang zu produzieren.
Kambodscha ist bisher ein Schlüsselpartner Chinas im Rahmen der Belt and Road Initiative und hat in den vergangenen Jahren umfangreiche chinesische Auslandsinvestitionen erhalten. Das Land hatte sich dann Ende Februar auch mehr oder weniger an das Wording Pekings gehalten, um die „Situation“ in der Ukraine zu beschreiben. Man wolle eine ausgewogene Haltung einnehmen, verkündete Hun noch kurz vor Kishidas Eintreffen in einem Telefonat mit KPCh-Generalsekretär Xi Jinping. Zudem hat China Kambodscha in den vergangenen Jahren als Blockademöglichkeit genutzt: da ASEAN nur Resolutionen und Entscheidungen durch Konsens trifft, hat Kambodscha – im Gegenzug für Wirtschaftsinvestitionen – gerne Resolutionen blockiert, die Chinas territoriale Bestrebungen im südchinesischen Meer klarer verurteilt hätten. China hat dafür in Kambodscha einen Tiefwasserhafen gebaut, auch die Nutzung von Marinestützpunkten für die chinesischen Seestreitkräfte ist geplant.
Doch die Pandemie hat Spuren in dem Entwicklungsland hinterlassen. Man ist auf Investitionen und wirtschaftliche Hilfe angewiesen, nicht nur aus Peking. Kishida war sich dessen bewusst und konnte Hun Sen bei seinem Besuch die Ansiedlung japanischer Firmen, bessere Einwanderungsmöglichkeiten für kambodschanische Arbeiterinnen und Arbeiter nach Japan sowie langfristig sogar ein Freihandelsabkommen in Aussicht stellen. Aufgrund der im Vergleich geringeren chinesischen Investitionen in der Gesamtregion Südostasien scheint Japans Strategie wohlüberlegt: Tokyo bietet nicht nur notwendige Hilfe für Kambodschas Wirtschaft. Eine Annäherung der beiden Staaten könnte nämlich auch dafür sorgen, dass Kambodschas Verhältnis zu den USA sich entspannt. Kein anderes Land im Indopazifik ist besser im Umgang mit Washington als Japan. Auch die Tatsache, dass Kambodscha – einer der wenigen internationalen Freunde Nordkoreas – die neuesten Raketenversuche Pjöngjangs verurteilte, könnte ein Einlenken auf eine eher pro-japanische Linie darstellen.
Eine indische Website titelte am Wochenende mit der Frage, ob Japan gerade Kambodscha von China weggeschnappt habe. Ganz so eilig sollte das Urteil vielleicht nicht ausfallen. Aber Tokyos Diplomatie in den ASEAN-Staaten ist strategisch durchaus logisch und vor allem langfristig gedacht. Ranghohe Besuche wie der von Kishida diese Woche in Phnom Penh, das Versprechen substanzieller Wirtschaftshilfen und eines besseres Standings auf der internationalen Bühne könnten tatsächlich schlagfertige Argumente für kleinere Staaten sein, sich nicht zu sehr hinter China zu stellen. Man könnte durchaus den Eindruck gewinnen, dass Kishida der Neuen Seidenstraße in der Region gerade einen gewichtigen Stolperstein in den Weg gelegt hat.
Zwei Zensuren und ein schlechter Lösungsansatz?
Kommen wir zu einem weiteren Land, dessen Position gegenüber Russland für Kopfschütteln sorgt: China. Eine genaue Linie gegenüber Moskau scheint man in Peking noch zu suchen. So machte vor wenigen Tagen ein Essay von Hu Wie, stellvertretender Vorsitzender des “Forschungszentrums für öffentliche Ordnung des Beraterbüros des chinesischen Staatsrats”, im US-China Perception Monitor vom amerikanischen Carter Center die Runde. Darin fordert Hu eine stärkere Positionierung Chinas gegenüber Russlands Eskalationen. Ein Auszug aus seinem Fazit (meine Übersetzung):
Um Chinas Rolle als verantwortungsbewusste Großmacht zu demonstrieren, kann sich China nicht nur an die Seite Putins stellen, sondern sollte auch konkrete Maßnahmen ergreifen, um Putins mögliche Eskapaden zu verhindern. China ist das einzige Land der Welt, das über diese Fähigkeit verfügt, und es muss diesen einzigartigen Vorteil voll ausspielen. Wenn Putin die Unterstützung Chinas verliert, wird er höchstwahrscheinlich den Krieg beenden oder zumindest nicht mehr wagen, den Krieg zu eskalieren.
Die Reaktion Pekings auf diese abweichende Meinung, in der auf einmal von einem “Krieg” die Rede war, kam eindeutig und schnell: nicht nur der Artikel von Hu wurde in seiner chinesischen Originalfassung auf Social Media geblockt. Auch der Internetauftritt des US-China Perception Monitor wurde wenige Stunden später gesperrt. Soweit Zensurbeispiel Nummer Eins.
Doch die Diskussion in Politik-Kreisen hält an. Journalist Zichen Wang veröffentlichte in seinem weit verbreiteten englischsprachigen Newsletter Pekingnology Auszüge aus zwei Interviews, die der einflussreiche Intellektuelle Zheng Yongnian mit der deutschen Wochenzeitung Die Zeit (Achtung, Bezahlschranke) und mit dem chinesischen Revolverblatt Global Times geführt hatte.
Den gesamten Kontext und Vergleich gab es im Newsletter Pekingnology zu lesen, den ich auch hier verlinken wollte. Und dann stellt sich heraus: die spezifische Ausgabe mit dem Titel “Zheng Yongnian: “No Limits” to China-Russia Relations?” wurde inzwischen gelöscht. Zensurbeispiel Nummer Zwei? Wer weiß. Wer die verschwundene Augabe des Pekingnology-Newsletter lesen will, möge sich vertrauensvoll per Email an mich wenden.
[Anmerkung: Zichen Weng hat in einer späteren Ausgabe noch einmal klar gestellt, dass es sich hierbei um urheberrechtliche Probleme gehandelt habe und die Zeit ihn auf einen Verstoß hingewiesen habe. Daraufhin wurde der Post gelöscht.]
Die bemerkenswerteste Aussage aus dem Zeit-Interview ist die Feststellung Zhengs, dass er die nun eintretende Remilitarisierung Deutschlands mit Sorge sehe. Er vermutet, dass nun auch Japan einen ähnlichen Pfad einschlagen könnte. Zudem verweist Zheng in den Interviews auf die Quad-Gruppe (USA-Japan-Indien-Australien) als Prototyp für ein anti-chinesisches Militärbündnis im Stile der NATO. Auch die stärkere Entwicklung von Indopazifik-Strategien in vielen westlichen Ländern ist für ihn ein Zeichen der Militarisierung westlicher und demokratischer Länder. Nun ist auch dies keine offizielle Staatsmeinung, lässt aber potenziell tiefere Einblicke in die Pekinger Gedankenwelt zu.
Ein weiterer Gedanke zu China: Staatsratsmitglied und Außenminister Wang Yi hatte sich vor wenigen Tagen an den Generalsekretär der Shanghai Cooperation Organization (SCO) gerichtet mit der Bitte, dass die Organisation sich für einen friedlichen Ausgang des Ukraine-Koflikts einsetzen möge.
Für den Kontext: Die SCO ist eine internationale Sicherheits- und Verteidigungsorganisation, die sich für eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit in Zentralasien einsetzt. Mitglieder sind neben China und Russland auch Kasachstan, Indien, Pakistan und weitere Staaten der Region. Die SCO soll unter anderem ein Gegenpol zur NATO sein und sogenannte „Farbenrevolutionen“ verhindern. Im Moment steht die SCO, deren Vorsitz turnusgemäß rotiert, unter chinesischer Führung.
Dass die SCO jetzt nicht gerade der unparteiischste aller Schiedsrichter wäre, dürfte auf der Hand liegen. Die Ukraine ist kein Mitgliedsstaat und der russische Einfluss in der Organisation nicht zu übersehen. Auch ist erkennbar, dass die kleineren Mitgliedsstaaten der SCO kein Interesse daran haben, in den Konflikt hineingezogen zu werden. Die Zurückhaltung Kasachstans gegenüber Russlands Invasion spricht derzeit Bände.
Es lässt sich also festhalten, dass auch in Peking und anderen Hauptstädten weiter sondiert und abgewogen wird: wie sehr stellt man sich hinter Moskau? Wie lässt sich der Konflikt tatsächlich diplomatisch lösen? Wie hoch sind die Kosten, wenn man sich der Weltgemeinschaft entgegenstellt? Und wie zensiert man eigentlich diese ganzen Intellektuellen, die einfach nicht aufhören wollen, die “Grenzenlosigkeit” der sino-russischen Freundschaft zu hinterfragen?
Lesenswert: Bütikofer ein Jahr nach Sanktionen
Im März 2021 verhängte die Volksrepublik China umfangreiche Sanktionen, unter anderem gegen Deutschlands wichtigsten China-Thinktank MERICS. Auch ganze eine Reihe Europaabgeordnete sind auf diese Liste geraten, darunter Grünenpolitiker und China-Kenner Reinhard Bütikofer. Auf Twitter lässt er das letzte Jahr unter chinesischen Sanktionen in einem Thread Revue passieren:
Und noch ein Twitter-Thread, diesmal zu der sich entwickelnden Position Indiens gegenüber Russland:
Notiz am Rande: waren Twitter-Threads vor der Invasion der Ukraine auch schon so omnipräsent?
Das wars für heute. Kommentare oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!