2022/09: Von Annäherung und Ambiguität
Wie wird sich Südkoreas Außenpolitik nach der Wahl entwickeln? Und warum ist Indien so nachsichtig gegenüber Russland?
Willkommen zur neunten Ausgabe dieses Jahres. Leider gab es eine Dopplung bei der Wochenzählung, diese habe ich inzwischen korrigiert. Thematisch geht es heute noch einmal nach Südkorea. Außerdem beleuchten wir die komplexen indischen Beziehungen zu Russland.
Weltgewandt und selbstbewusst? Das neue Südkorea des Yun Seok-yeol
Südkorea hat eine neue, konservative Regierung. Was bedeutet das für die Außenpolitik der kommenden fünf Jahre? Eine erste Analyse.
Nach dem Sieg von Yun Seok-yeol bei der Präsidentschaftswahl in Südkorea konnte die japanische Regierung in Tokyo ihre Zufriedenheit mit dem Ergebnis nur schwer verbergen. Tatsächlich bietet der Sieg der Konservativen für Japans Premierminister Kishida Fumio eine besondere Chance der Annäherung. Er beabsichtige, so Kishida, eng mit dem neuen Präsidenten zusammenzuarbeiten, um die Beziehungen zwischen Japan und Südkorea zu verbessern. Die Beziehungen seien in einer schwierigen Lage, und man könne sie nicht in dem jetzigen Zustand belassen.
Nach fünf Jahren unter dem linksliberalen Präsidenten Moon Jae-in hat nun also das konservative Lager das Blaue Haus in Seoul zurückerobert. Angesichts der jetzt anstehenden Umwälzungen ist es kaum verwunderlich, dass Kishida vielleicht etwas wehmütig auf die Zeit vor 2017 zurückzuschauen scheint. Kishida Fumio selbst war japanischer Außenminister, als im Dezember 2015 das “historische” Abkommen zwischen Seoul und Tokyo zur Beilegung der “Trostfrauen”-Angelegenheit verkündet wurde. Südkoreas konservative Präsidentin Park Geun-hye und Japans nationalistischer Langzeitpremier Abe Shinzo schienen gewillt, eine der strittigsten Geschichtsfragen der Gegenwart durch die Gründung einer Stiftung und ein offizielles japanische Schuldeingeständnis “endgültig” beizulegen.
Das Abkommen erntete in Teilen eine zögerliche Anerkennung außerhalb Südkoreas. In dem Land selbst war die Reaktion von Überlebenden und der Zivilgesellschaft durch beinahe instinktive Ablehnung geprägt. Nach seinem Amtsantritt verkündete Moon Jae-in im Jahr 2017 dann auch eine sofortige Aufkündigung der Vereinbarung. Die folgenden Jahre waren dann vor allem von einem intensiven Tit-for-Tat-Handelskrieg zwischen den zwei größten Demokratien Ostasiens geprägt - und von den turbulenten Wirrungen der Trump-Zeit, deren diplomatische Odysee mit Nordkorea die Regierung in Tokyo grundsätzlich verwirrte und die Verantwortlichen in Seoul mit falschen Hoffnungen erfüllte.
Im Jahr 2022 hat sich nun das Führungspersonal in den USA, in Japan und in Südkorea vollständig erneuert. Präsident Joe Biden wirkt aufgrund seines erfahrenen Beraterstabs besonnener als sein Vorgänger im Umgang mit Diktatoren und auch mit Bündispartnern. Kishida Fumio scheint ähnliche politische Reflexe wie Abe Shinzo zu haben, kommt aber nicht mit dem nationalistischen Ballast von Japans dienstältesten Regierungschef daher. Und Yun Seok-yeol, dessen Agenda eine Annäherung ans amerikanische Lager vermuten lässt, dürfte die japanische Unterdrückung Koreas weniger für politische Zwecke instrumentalisieren als Moon.
Doch was sind konkret die Eckpunkte von Yuns Außenpolitik? In einem ausschweifenden Essay für das amerikanische Magazin Foreign Affairs Anfang Februar erklärte der ehemalige Generalbundesanwalt Südkoreas, der bisher eher durch seine verbalen Aussetzer als durch die Durchdachtheit seiner Politik bekannt geworden war, die Grundsätze, durch die er Südkoreas Profil in der internationalen Gemeinschaft schärfen möchte. Hier einige übersetzte Zitate, die die wichtigsten Thesen Yuns zusammenfassen:
Weniger Annäherung an Nordkorea
Eine Außenpolitik, die hauptsächlich auf die Verbesserung der Beziehungen zu Nordkorea zugeschnitten ist, hat die Rolle Seouls in der Weltgemeinschaft schrumpfen lassen. Vor allem aber ist das Bündnis zwischen den USA und Südkorea aufgrund der Differenzen zwischen den beiden Ländern in der Nordkorea-Politik ins Wanken geraten: Seoul hat sich auf die Zusammenarbeit mit Pjöngjang konzentriert, während Washington der Konfrontation mit Nordkorea wegen seiner nuklearen Bedrohungen und Menschenrechtsverletzungen Vorrang eingeräumt hat.
Ein selbstewussteres Auftreten in der Welt
Südkorea hat eine lange, dunkle Zeit der Diktatur überstanden, ist aber angesichts von Verstößen gegen liberal-demokratische Normen und Menschenrechte, die andere Demokratien betroffen haben, auffallend still geblieben. Südkorea beherbergt den von den Vereinten Nationen unterstützten Green Climate Fund und das International Vaccine Institute und ist gut positioniert, um eine Führungsrolle in Sachen Klimawandel und Pandemiebekämpfung zu übernehmen.
Weniger Abhängigkeit von China
Südkorea hat sich auf Kosten seiner eigenen Sicherheitsinteressen der wirtschaftlichen Vergeltung Chinas gebeugt. […] Südkorea sollte sich niemals gezwungen sehen, zwischen den Vereinigten Staaten und China zu wählen, sondern muss stets die prinzipielle Position vertreten, dass es keine Kompromisse bei seinen zentralen Sicherheitsinteressen eingehen wird.
Mehr Kooperation mit gleichgesinnten Staaten
Seoul sollte sich bereitwillig an den Arbeitsgruppen des Quadrilateralen Sicherheitsdialogs [Quad, Anm.] beteiligen, den Beitritt zu multilateralen regionalen Kooperationsinitiativen in Erwägung ziehen und sich an der trilateralen Sicherheitskoordination mit den Vereinigten Staaten und Japan beteiligen.”
So sehr es also berechtigte Bauchschmerzen bezüglich Yuns Sozial- und Innenpolitik geben sollte (Stichwort “Antifeminismus”), kann die Rückkehr der südkoreanischen Konservativen ins Blaue Haus außenpolitisch als eine Chance für neue Weichenstellungen wahrgenommen werden.
Yuns Forderungen sowie die tatsächlichen Sicherheitsinteressen von Japan und Südkorea erscheinen praktisch deckungsgleich. Nordkoreanische Raketen sind aufgrund ihrer Reichweite für beide Länder eine reale Bedrohung. Das ist durch den fehlgeschlagenen Raketentest des nordkoreanischen Regimes gerade in dieser Woche einmal mehr deutlich geworden.
Beide Länder sehen mit Besorgnis, wie die freiheitliche Ordnung im Indopazifik durch die hegemonialen Bestrebungen Pekings untergraben wird. Und beide Länder sind enge Verbündete der USA, deren eigene Sicherheit bis heute fast vollständig auf dem Schutz der dort stationierten US-Truppen beruht. Das ist, auch mit Blick auf die fragwürdige Verteidigungsbereitschaft der USA unter einem zukünftigen republikanischen Präsidenten, eine heikle Wette gegen die Realität. (Lookin’ at you, Europe)
Weniger Illusionen im Umgang mit Nordkorea, eine internationalere Ausrichtung des Landes, ein klareres Bekenntnis zu demokratischen Grundsätzen und mehr Kooperation mit Partnern wie etwa den Quad-Staaten Indien, Japan, Australien und USA - die Positionierung von Südkoreas neuer Regierung erscheint zumindest in der Theorie eindeutig.
Eine ernsthafte Aussöhnung zwischen Tokyo und Seoul ist allerdings auch in der neuen Konstellation nur schwer vorstellbar. Eine pragmatische Annäherung, die die nationalistischen Befindlichkeiten auf beiden Seiten zugunsten gemeinsamer Ziele in den Hintergrund rücken lässt, könnte jedoch in greifbare Nähe rücken.
Krieg in der Ukraine: Et tu, Indien?
Während sich die Weltöffentlichkeit vor allem mit der chinesischen Reaktion auf Russlands Angriffskrieg beschäftigt hat, gibt Indiens Position zumindest auf den ersten Blick Rätsel auf.
In den vergangenen Tagen wurde viel spekuliert über ein mögliches alternatives Zahlungssystem, das Russlands Banken trotz des Auschlusses von SWIFT die Möglichkeit für internationale Transaktionen geben könnte. Viel wurde dabei auch spekuliert über eine engere Kooperation zwischen China und Russland. Vor allem auch, weil russische Finanzinstitute verstärkt auf den Renminbi für Transaktionen setzen und das chinesische System for Transfer of Financial Messages (SPFS) durchaus als Alternative für SWIFT funktionieren könnte.
Doch tatsächlich sind es auch Indiens Banken, die die Geldflüsse von und nach Russland aufrecht erhalten wollen. Die Hindustan Times berichtete vor ein paar Tagen über diese Bemühungen von Regierungsbeamten und der indischen Zentralbank. Vorbild seien ähnliche Mechanismen, die Indien in der Vergangenheit etabliert hatte, um westliche Sanktionen gegen Iran umgehen zu können.
Doch warum möchte ausgerechnet Quad-Mitglied Indien, inzwischen einer von Washingtons engsten Verbündeten im Indopazifik, den Handel mit Russland aufrecht erhalten?
Für ein besseres Verständnis lohnt sich ein kurzer Blick auf die historischen Verbindungen zwischen Neu-Delhi und Moskau. Tatsächlich gibt es seit Beginn des Kalten Krieges eine Tendenz in der indischen Führung, sich nicht zu sehr auf eine Seite zu schlagen. Indiens aktive Beteiligung an der Bandung-Konferenz und seine bis heute wichtige Rolle in der Gemeinschat der Blockfreien Staaten sind historisch gewachsen. Ein wichtiger, aber oft unterschätzer Faktor dabei: eine in Teilen der indischen Gesellschaft schon damals existierende hindunationalistisch-ideologische Ablehnung westlicher Werte, die gewisse Gruppen vor allem in der amerikanischen Außenpolitik vermuteten. (Weiterführende Lektüre zum letzten Punkt: Manu Bhagavan - India and the Cold War)
Dennoch gibt es zwei Entwicklungen, die die neutrale Position Neu-Delhis langfristig untergraben könnten.
Erstens gibt es einen Rückgang bei Militärimporten aus Russland. Neu-Delhi erhält bis heute einen Großteil seiner Militärimporte aus Russland. Seit dem Kalten Krieg kaufte man vor allem Kampfjets, Gewehre und U-Boote von Moskau. Zwar gingen laut dem Institut Sipri die Importe aus Russland in den letzten Jahren stark zurück. Zwischen 2017 und 2021 war Russland für Indien dennoch die wichtigste Quelle für militärisches Equipment mit einem Anteil von 46 % an den Gesamtimporten. Der Trend ist jedoch in den letzten Jahren eindeutig rückläufig.
Zweitens spielt die komplizierte Dreiecksbeziehung mit Peking eine immer wichtigere Rolle. Insgesamt dürfte die Annäherung Russlands an China für Unbehagen in Indien sorgen. Indien und China haben letztes Jahr einen alten Grenzkrieg im Himalaya-Gebirge wieder aufflammen lassen, bei dem mehrere Soldaten ums Leben gekommen sind. Neu-Delhi hat sich durch die geopolitischen Streitigkeiten mit dem kommunistischen Nachbarland zudem immer mehr dem amerikanischen Lager im Indopazifik zugewendet, was durch die Teilnahme am Quad-Format und die Steigerung amerikanischer Militärimporte unterstrichen wird. Wie die New York Times berichtet, ist das Volumen dieser Importe von praktisch Null auf 20 Milliarden innerhalb des letzten Jahrzehnts angewachsen. Und auch die zivilgesellschaftliche Solidarisierung mit dem demokratischen Taiwan ist in Indien spätestens seit dem Beginn der Corona-Pandemie besonders stark (siehe auch frühere Berichterstattung zur Milk Tea Alliance).
Dennoch ist die historisch gewachsene Ambivalenz Indiens ein wichtiger Faktor in der gegenwärtigen Situation. So erklärt sich dann auch das indische Abstimmungsverhalten in der UN-Vollversammlung: Indien enthielt sich bei der Resolution, die den russischen Angriffskrieg verurteilte.
In Washington herrscht derweil wachsende Ungeduld über Indiens Zögern. Aufgrund der weiterhin signifikanten Waffenimporte und der Abhängigkeit von russischen Rohstoffen wird Neu Delhi sich aber nicht schnell neu positionieren können und wollen. Und mit einem Blick auf die langen Beziehungen mit Moskau dürfte auch bezweifelt werden, ob Indien seinen scheinbar neutralen Status wirklich aufgeben möchte.
Und zum Schluss:
Das stärkste Erdbeben seit der Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 hat am Mittwoch den Nordosten Japans, besonders die Präfekturen Miyagi und Fukushima, erschüttert. Trotz der Todesfälle und Verletzten scheint ein Großteil der Gebäude gehalten zu haben. Expertinnen und Experten gehen von einem Nachbeben des großen Erdbebens von 2011 aus, bei dem damals unter anderem das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi unter anderem aufgrund der hohen Flutwellen und zu niedrieger Schutzmauern havarierte.
Das wars für heute. Kommentare oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!