2021/Woche 32: Wir lassen niemanden zurück
Ein bizarrer Hauch von George W. Bush weht durch die Wahlprogramme in Japan. Eine inhaltliche Analyse der Parteien LDP und KDP.
Kurzer Ausblick vorab: die Wahlen zum Unterhaus in Japan finden am Sonntag, dem 31. Oktober, statt. Am kommenden Freitag (29. Oktober) gibt es hier zu gewohnter Zeit einen kurzen Überblick über die letzten Tage des Wahlkampfes, eine Analyse der Meinungsumfragen und weitere Perspektiven. Am Montag (1. November) finden Abonnenten eine Sonderausgabe mit Schnellanalyse in ihren Email-Postfächern.
Heute blicken wir ausführlicher in die Wahlprogramme der beiden wichtigsten Parteien - der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) und der größten Oppositionspartei, der Konstitutionell-Demokratischen Partei (KDP).
LDP: Gemeinsam in die neue Ära
Wenn man das Wahlprogramm der regierenden konservativen LDP nur auf sprachliche Aspekte hin untersuchen würde, könnte der Eindruck entstehen, dass jetzt alles neu und besser werden wird. Inhaltlich handelt es sich aber erneut um das gewohnte Programm der LDP. Der Fokus liegt auf einer stark wachsenden Exportwirtschaft, Unterstützung sollen vor allem die Industrien in den Präfekturen erhalten. Die ersten fünf der acht Kapitel sind mehr oder weniger mit Wirtschaftsthemen belegt.
Nach den Auswirkungen der Corona-Pandemie sollen Japan und vor allem die japanische Wirtschaft wieder neu aufgebaut werden. Man hat die gesamten Forderungen, wie erwähnt, in acht Kapitel eingeteilt, die wie folgt lauten:
Wiederaufbau nach Corona. Vor allem kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) soll mit garantiert niedrigen Zinsen und anderen Anreizen geholfen werden. Es gehe darum, „die Mittelschicht zu stärken“
Die Ankunft des „Neuen Kapitalismus“. Unter diesem Titel warb Premierminister schon in den Vorwahlen der LDP für sein Wirtschaftsprogramm. Durch intensivierte Forschung und Entwicklung soll die Wirtschaft klimaneutraler und wettbewerbsfähiger werden, man wolle auch den Erfolg von Frauen am Arbeitsplatz fördern. Die regionale Wirtschaft müsse zudem gesichert werden. Das zweite Kapitel ist der Hauptteil des LDP-Programms (zumindest der Länge nach), bleibt aber Details zur Umsetzung schuldig. Auch ist schwer zu erkennen, was an diesem Kapitalismus eigentlich neu sein soll. All diese Ideen und Initiativen finden zu einem gewissen Grad auch jetzt schon Umsetzung. Ein Verdacht regt sich: Handelt es sich doch nur um „Alten Kapitalismus in neuen Schläuchen?“
Schutz der Schlüsselbranchen Land- und Forstwirtschaft sowie der Fischerei. Hierbei handelt es sich um Klientelpolitik, weil hier durch Importzölle und andere Maßnahmen der auswärtige Wettbewerb eingegrenzt werden soll. Gleichzeitig soll der Export gestärkt werden: Ziel ist ein stark ansteigendes Exportvolumen bis 2030. Dabei soll vor allem KMU beim Export geholfen werden.
Lokale Wirtschaft stärken. Gefühlt haben wir das schon in Kapitel 2 erfahren, hier folgen aber zumindest ein paar Details zur Umsetzung. Die LDP möchte den Ausbau des 5G-Netzes im ländlichen Raum vorantreiben und einen effektiveren Schutz vor Naturkatastrophen etablieren. Das ist vor allem im gebirgigen ländlichen Raum und entfernt von den Metropolen in Japan ein alltägliches Problem, vor allem während der Flut- und Regenzeiten im Hochsommer.
Die Wirtschaft soll resilienter werden. Der Schutz von Lieferketten, die Abwehr von Industriespionage und eine möglichst starke heimische Industrie, die wenig abhängig vom Ausland ist, stehen hier im Mittelpunkt.
Eine stabile, amerikafreundliche Außenpolitik. Wenn man sich die Bilder in diesem Kapitel anschaut, könnte man meinen, der früherer amerikanische Außenminister John Kerry sei Kandidat der LDP. Er taucht auf mindestens drei Fotos auf, meistens neben dem heutigen Premier Kishida Fumio, damals noch japanischer Außenminister. Es ist hier die Rede von einem neuen Sicherheitsumfeld und der wachsenden Militarisierung Chinas, die als Bedrohung empfunden wird. Japans Abwehrkapazitäten sollen „radikal verstärkt“ werden. Hier geht es um neue Raketenabwehrsysteme und Technik zum Abfangen von Flugkörpern. Das richtet sich auch gegen die existierende reelle Gefahr aus Nordkorea.
Bildung stärken und Kindererziehung verbessern. Unter dem japanischen Slogan 誰一人取り残さない (Niemand wird zurückgelassen) regen sich Erinnerungen an die Slogans der katastrophalen Bildungspolitik der US-Regierung unter George W. Bush (no child left behind). Vor allem soll hier allen Schichten der Zugang zu Bildungseinrichtungen erleichtert oder ermöglicht werden.
Die Verfassung soll „überarbeitet“ werden. Wohl in der Hoffnung, dass der geneigte Leser nach Kapitel 2 oder 3 seine Lektüre frustriert aufgegeben hat, versteckt die LDP hier ein ganz heißes Eisen: in der Verfassung soll vor allem Artikel 9, der sogenannte Pazifismus-Artikel, umgeschrieben werden. Das würde der Regierung ermöglichen, die de facto Armee (die sogenannten Selbstverteidigungskräfte), auf rechtlich sichere Füße zu stellen. Eine solche Verfassungsänderung steht allerdings seit Jahrzehnten auf der Agenda und scheiterte bisher an der mehrheitlichen Ablehnung der Bevölkerung und Streitigkeiten innerhalb der LDP selbst. Auch könnte eine stärkere Zentralisierung bevorstehen, die Gemeinden weniger Selbstverwaltung ermöglichen würde.
Fazit: Kurios an diesem von allen unnötigen Ambitionen befreitem Wahlprogramm ist die Tatsache, dass einige der zentralen Ziele von Premier Kishida, die er im Wahlkampf zum LDP-Vorsitz letzten Monat formulierte, nicht im Programm auftauchen. Stattdessen wehe, so die Beobachtung, ein dezenter Hauch von Ex-Premier Abe Shinzo durch die Seiten. Kishidas Gegenkandidatin zum Parteivorsitz und Abe-Vertraute Takaichi Sanae ist inzwischen Vorsitzende des LDP-Forschungsrats und hat das Programm maßgeblich mitentwickelt.
KDP: Verändern und solidarisch unterstützen
Die größte Oppositionspartei ist die linkszentristische Konstitutionell-Demokratische Partei. Sie möchte in ihrem Wahlprogramm insgesamt sieben Bereiche ändern, sollte sie überraschend die Wahl gegen die LDP gewinnen.
Bis zum Äußersten das Leben der Japanerinnen und Japaner nach Corona schützen. Hier wird vor allem Kritik am Krisenmanagement der Regierung deutlich, die während der Pandemie keine gute Figur gemacht hat.
Wiederbelebung der Einhundert-Millionen-Mittelschicht. Ein beliebtes Schlagwort, dass sich wie ein Versprechen einer anderen Zeit anhört. Der Wohlstand soll so gerecht verteilt werden, dass 100 Millionen Einwohner Japans in einer gesicherten Mittelschicht leben können.
Ohne Atomenergie die Energiewende schaffen. Der Ausbau von Solarenergie und Windkraft stehen bei der KDP auf dem Plan. Damit möchte man vor allem den Teil der Bevölkerung ansprechen, der nach der Katastrophe von Fukushima der Atomkraft gegenüber skeptisch bis offen ablehnend geworden ist.
Ein besseres Sozialsystem, eine bessere Bildung. So sollen ältere Mitbürgerinnen genauso gut versorgt werden wie Kinder. Vor allem einkommensschwache Haushalte stehen für die KDP im Fokus.
Eine diverse Gesellschaft aufbauen. Man möchte geschlechtsbasierte Diskriminierung am Arbeitsplatz beenden, das Tragen unterschiedlicher Nachnamen für Ehepartner ermöglichen und die LGBT-Gemeinschaft stärker unterstützen. Auch hier, wie bei der LDP-Bildungspolitik, wird davon gesprochen, dass „niemand zurückgelassen“ werden solle. Auch das klingt erstaunlich stark nach George W. Bush.
Den Frieden schützen und eine pazifistische Außenpolitik etablieren. Japans Außenpolitik soll auf den Prinzipien des Friedens und des Nichtangreifens basieren, die Klimapolitik den Zielen für nachhaltige Entwicklung der UN folgen. Die US-Japan-Partnerschaft solle zudem pragmatischer werden. Das bedeutet, dass man eine stärkere Kontrolle der US-Militärbasen befürwortet. Vor allem der umstrittene Stützpunkt in Okinawa sorgt bei der Bevölkerung vor Ort für Unmut. Eine gleiche Forderung hatte schon die Vorgängerpartei der KDP, die Demokratische Partei, als sie 2009 an die Macht kam. Umgesetzt hat man das damals freilich auch nicht. Klar ist: die KDP ist, schon ihrem Namen nach, gegen jegliche Aufweichung von Artikel 9.
Eine “saubere und anstädnige Regierung” führen. Das ist der eindeutigste Seitenhieb auf die LDP, die unter Premier Abe eine Reihe von Skandalen zu verantworten hatte. Auch sollen „Störungen der öffentlichen Ordnung und Moral“ beseitigt werden. Das klingt nicht nach Mitte-Links-Politik, bezieht sich aber auf die Ausgabe von Casino-Lizenzen in einigen Städten in Japan. Glücksspiel ist in Japan stark reguliert und bisher fast vollständig illegal. Besonders bei der Bürgermeisterwahl in Yokohama gab es heftige Kontroversen um eine solches Bauprojekt in der Nähe des weltbekannten Hafens. Auch wolle man, im Gegensatz zur LDP, die Unabhängigkeit der Gemeinden beibehalten und stärken.
Fazit: Das Problem der KDP, trotz ihrem in großen Teilen wenig radikalen Programm, ist die Schwäche der Partei in der Breite: man ist und bleibt der Überbleibsel der gescheiterten Demokratischen Partei, der sich vor allem in den großen Metropolen wiederfindet. Viele der sozialpolitischen Forderungen sind beliebt in der urbanen Mittel- und Oberschicht, den Rest des Landes dürften sie noch nicht hinterm Ofen hervorlocken. Dennoch: die KDP hat einen glasklaren Gegenentwurf zur konservativen Regierung entworfen und stellt diesen zur Wahl.
Ein Wahlbündnis mit der Kommunistischen Partei könnte ein paar mehr Sitze nach der kommenden Wahl bringen, aber nicht genug, um eine Regierung bilden zu können. Doch weil die KDP tatsächlich nicht genug Kandidatinnen und Kandidaten aufstellt, um der LDP wirklich gefährlich zu werden, handelt es sich bei dieser Wahl wohl nicht um eine Richtungsentscheidung.
Hörtipp: Die Rückkehr des Flaggen-Mysteriums
Es gibt kaum einen Podcast, den man so oft empfehlen kann und möchte wie 99% Invisible. Auch die Folge der vergangenen Woche hat ein Thema beleuchtet, von dem man noch nicht einmal wusste, dass es existiert und dass es so spannend und vielfältig sein könnte.
Die Leserschaft dieses Newsletters erinnert sich vielleicht noch an Ausgabe 2021/Woche 1 aus dem Januar. Damals habe ich mich ein wenig gewundert, dass am 6. Januar bei der Stürmung des Kapitols in Washington D.C. so viele Flaggen aus anderen Ländern auftauchten; ich meine weiterhin, damals auf CNN eindeutig eine japanische Flagge in der Menschenmenge gesehen zu haben.
Offensichtlich war auch die Flagge Süd-Vietnams, eines seit Jahrzehnten untergegangenen Staats, am Kapitol zu sehen. In der Folge Changing Stripes begibt sich 99pi-Produzentin Vivian Le auf eine Reise durch die Geschichte ihrer eigenen Familie und deckt bemerkenswerte Bruchstellen in der vietnamesischen Diaspora auf.
Auch dieses Mal keine Zeit für weitere Meldungen. Es kommen auch wieder normalere Zeiten, versprochen.
Das wars für heute. Kommentare oder Kritik? immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!