2021/Woche 26: Das Ende der kurzen Ära Suga
Mit einer Sonderausgabe zu den politischen Entwicklungen in Japan.
Manchmal wird man von den Nachrichten überholt. So geschehen im Newsletter der letzten Woche, der am Donnerstagabend europäischer Zeit fertig geschrieben und Freitagmorgen automatisch versendet wurde.
Zwischen dem letzten Feinschliff und der Veröffentlichung ist dann etwas geschehen, womit seit Wochen eigentlich zu rechnen war: Japans Premierminister Suga Yoshihide hat angekündigt, Ende des Monats nicht mehr bei der innerparteilichen Wahl zum Vorsitzenden der konservativen Liberaldemokratischen Partei (LDP) anzutreten. Damit hängt auch sein Rücktritt als Premier Ende des Monats zusammen. Diese Entwicklungen gibt es hier nochmal im Detail.
“Onkel Reiwa” hat genug
Die Entscheidung des neuen LDP-Vorsitzenden ist der anschließenden Wahl zum Unterhaus vorgelagert. Diese wird spätestens am 28. November stattfinden und damit noch einmal deutlich später als gedacht.
Sugas ursprünglicher Plan war es, die umstrittenen Olympischen Spiele erfolgreich über die Bühne zu bringen und gleichzeitig die Impfkampagne signifikant voranzutreiben. Während das sportliche Großereignis relativ problemlos verlief und Japan sogar einen Medaillenrekord bescherte, gerät das Impfen immer wieder ins Stocken. Es häufen sich die Meldungen von verunreinigten Lieferungen des Moderna-Impfstoffs, der in einer spanischen Fabrik hergestellt worden sein soll. Die Impfquote liegt (Stand: Do, 09. September nachmittags) bei 61 %, knapp 50% sind vollständig geimpft.
Wäre die Impfkampagne weiter fortgeschritten und hätte Olympia für mehr Begeisterung etwa durch Stadionbesuche und Bilder von feiernden Menschen gesorgt, wäre Sugas Idee vielleicht aufgegangen. Er hätte sich dann als erfolgreicher Nachfolger seines langjährigen Vorgängers Abe Shinzo präsentieren können und allen Gegenspielenden zum Trotz den LDP-Vorsitz verteidigen können.
Seine jetzt knapp einjährige Amtszeit war jedoch, zumindest auf den ersten Blick, eine einzige Aneinanderreihung von Niederlagen. Angefangen bei den teils bemitleidenswerten Auftritten Sugas im Parlament, wo er von der Opposition durch Zwischenrufe und andere beherzte Wortmeldungen regelmäßig filetiert wurde. Und dann kam übers Jahr verteilt eine Wahlniederlage nach der anderen für die LDP.
Die Gouverneurswahlen in den Präfekturen Yamagata, Chiba, Shizuoka und Hyogo verlor man, in zahlreichen Regionalparlamenten verlor man die Mehrheit oder erreichte keine neue (besonders schmerzlich für die LDP im Tokyoter Parlament).
Premier Sugas Wahlbezirk befindet sich in der Präfektur Kanagawa, deren größte Stadt Yokohama ist. Die dortige Bürgermeisterwahl im August war dann wohl der letzte Sargnagel für den Regierungschef. Die LDP-Kandidatin belegte in der Wahl nur den dritten Platz. Stattdessen gewann überraschend eindeutig mit Yamanaka Takeharu ein Kandidat, der von fast allen Oppositionsparteien von den Kommunisten bis zum Mitte-Rechts-Lager unterstützt wurde. Hier ging es zwar auch um Lokalpolitik (besonders um den umstrittenen Bau eines Casinos), aber die Abstimmung wurde eben auch als Strafzettel die LDP wahrgenommen.
Wie im Newsletter der vergangenen Woche noch zu lesen war, plante Suga daraufhin eine Umgestaltung seines Führungsteams, um sich auf die Wahlen zum LDP-Vorsitz Ende September vorzubereiten. Doch bereits hier war klar: das Feld der Konkurrenten würde es ihm immer schwerer machen, erneut gewählt zu werden.
Letztendlich war die Amtszeit von Suga, die insgesamt dann ein Jahr dauern wird, relativ durchschnittlich. Japan ist bekannt dafür, dass der Regierungsvorsitz selten über Jahre bei der gleichen Person verbleibt. Ex-Premier Abe wird auf lange Sicht eine Ausnahme sein: eine achtjährige Amtszeit ohne Unterbrechung ist tatsächlich fast ohne Präzedenz. Suga war zudem 2020 mit dem Versprechen angetreten, so etwas wie Abes “Nachlassverwalter” sein zu wollen. Als Kabinettsminister war er so grau, wie es einem Berufsbeamten gebührt. Der breiteren Öffentlichkeit wurde er 2018 bekannt, als er zum Amtsantritt des neuen Kaisers den Namen der neuen Ära (令和Reiwa, dt. „schöne Harmonie“) verkündete. Er bekam im Netz daraufhin den Spitznamen Reiwa Ojisan oder “Onkel Reiwa”.
Suga gehört keiner der dominanten innerparteilichen Fraktionen der LDP an und war somit ein kurzfristiger Kompromisskandidat, als Abe Ende August 2020 aus gesundheitlichen Gründen zurücktrat. Aber eben auch nicht mehr als ein Kompromiss mitten in der Corona-Krise, der noch etwas Kontinuität versprach.
Doch wer kommt jetzt?
Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es drei Kandidatinnen, die ihren Hut in den Ring um den LDP-Vorsitz geworfen haben: der Unterhaus-Abgeordnete Kishida Fumio (Hiroshima) sowie seine beiden Kolleginnen Takaichi Sanae (Nara) und Noda Seiko (Gifu). Das ist tatsächlich ein bemerkenswertes Feld. Dass mit Takaichi und Noda zwei Frauen antreten, sollte aufhorchen lassen. Die bisher einzige Kandidatin in der Geschichte der LDP war 2009 Koike Yuriko, die sich später aus der Partei zurückzog und jetzt Gouverneurin von Tokyo ist.
Ein paar Details zu den Kandidaten sind bereits bekannt:
Kishida Fumio
Kishida war unter Abe Shinzo von 2012 bis 2017 Außenminister, ist Vorsitzender einer einflussreichen Fraktion innerhalb der Partei und Mitglied der ultranationalistischen Organisation Nippon Kaigi. Letztes Jahr war er bereits einer der Gegenkandidaten von Suga für den Parteivorsitz. In einem kurzen Erklärstück, welches Korrespondentin Kathrin Erdmann für die Tagesschau verfasst hat, finden sich noch einige herrliche Fun Facts zu Kishida. Bitte festhalten:
Privat führt Kissy, wie Kishida auch genannt wird, ein ungewöhnliches Leben. Seine Frau lebt in Hiroshima, er mit seinen beiden Söhnen in Tokio, wie er vor einem Jahr dem japanischen Sender NTV erzählte: "Ich bin für den Abwasch zuständig, weil ich sonst nichts kann. Das ist auch gut für die Seele, weil ich dann meine Arbeit mal kurz vergessen kann. In einem Männer-Haushalt kann die Arbeitslast mit anderen aufgeteilt werden, was gut ist."
Kishida gilt als starker Trinker. Bei einem Außenministertreffen soll er sich mit seinem damaligen russischen Kollegen Sergej Lawrow einen kleinen Wettkampf geliefert haben. Lawrow schenkte Kishida danach ein verziertes Buch - eine Attrappe. Darin versteckt war eine Flasche Wodka.
„Kissy“ mit dem privaten Männer-Haushalt ist übrigens der klare Favorit für den LDP-Vorsitz. Mal schauen, ob er mehr kann, als abwaschen.
Takaichi Sanae
Endlich, würde man normalerweise sagen. Eine kompetente, langjährige Abgeordnete und ehemalige Ministerin, die Premierministerin der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt werden will. Ärgerlich nur, wenn man dann mal schaut, was die gute Frau so gesagt hat in den letzten Jahrzehnten. Das könnte auch Unbefangene stutzig machen: die bekennende Konservative und Verehrerin von Margaret Thatcher ist eine häufige Besucherin des Yasukuni-Schreins, wo die „japanischen Helden“ des letzten Weltkriegs verehrt werden. Sie befürwortet eine Änderung der Verfassung, damit Japan eine offizielle Armee aufbauen kann. Takaichi ist wie Kishida Mitglied von Nippon Kaigi. Vor ihrer Karriere als Politikerin arbeitete sie unter anderem für eine Abgeordnete im US-amerikanischen Repräsentantenhaus. In öffentlichen Umfragen schneidet Takaichi allerdings äußerst schlecht ab, was ihre ohnehin geringen Chancen auf den Parteivorsitz verringern dürften. Und das trotz der Unterstützung Abe Shinzos für die Kandidatin.
Noda Seiko
Noda wurde 1993 als erste weibliche Abgeordnete der LDP ins Unterhaus gewählt. Obwohl sie sich als konservativ bezeichnet, hat sie einige politische Ansichten, die als zukunftsweisend in Japan angesehen werden können: so unterstützt Noda das Recht von Frauen, nach der Heirat ihren Geburtsnamen beibehalten zu dürfen (das ist in Japan bisher nicht erlaubt und unterstreicht die streng konservative Haltung weiter Teile der politischen Landschaft in Familienfragen). Eines ihrer wichtigsten Anliegen ist die Umkehrung der fallenden Geburtsrate. Zu diesem Thema hat sie bereits Bücher veröffentlicht.
Es bleibt spannend, auch wenn Kishida der Favorit zu sein scheint. Unter den weiteren möglichen Kandidaten befindet sich Kono Taro, der derzeit auch Minister im Kabinett von Premier Suga ist. In den kommenden Wochen werden wir alle weiteren Kandidaten hier noch kennenlernen. Einige Beobachter vermuten, dass die Wahlvorhersagen durch die Umstände der Pandemie und der allgemeinen Frustration mit der LDP schwierig sind.
Zudem sei durch die Wahl in Yokohama klar, dass auch Anti-LDP-Kandidaten eine Wahl gewinnen können. Das Problem dabei ist nur: ein Bürgermeister wird direkt gewählt, eine Premierministerin durch eine Parlamentsmehrheit. Und die Opposition wird sich relativ sicher nicht gegen die LDP zusammenraufen. Ultranationalisten und Kommunisten mögen zwar die Regierung nicht mögen, kooperieren würden sie trotzdem nicht auf nationaler Ebene.
Was sonst noch geschah:
Ausnahmezustand wird beendet: zusammen mit Sugas Amtszeit endet auch der Covid-19-Ausnahmezustand in 19 Präfekturen, unter anderem in Tokyo. Die Infektionszahlen sind auf einem immer noch hohen Niveau derweil leicht zurückgegangen.
Ein Staatsanwalt kommt ins Schwimmen: Südkoreas Konservative suchen gerade ihren Präsidentschaftskandidaten. Der bisherige Favorit Yun Seok-yeol war in den letzten Jahren Generalstaatsanwalt und fiel immer wieder durch seine Opposition zu Moon Jae-ins Mitte-Links-Regierung auf. Nun kam heraus, dass er Oppositionspolitikern politische Gefälligkeiten in Form von möglichen Anklagen gegenüber Kandidaten der Regierungspartei vorgeschlagen habe. Yuns Lager weist alle Vorwürfe zurück, Regierungspolitikerinnen sprechen bereits von einem “versuchten Staatsstreich”. Der Korea Herald mit einem Bericht.
Neuauflage des Quad-Treffens: Der “Vierer” - USA, Japan, Indien und Australien - wird sich in den kommenden Monaten in Nordamerika treffen, um in Person weiter über eine gemeinsame Strategie gegen Chinas geopolitischen Einfluss im Indopazifik zu beraten.
Europaparlament für bessere Beziehungen zu Taiwan: Der Ausschuss für Auswärtige Politik des Parlaments legte am Mittwoch einen entsprechenden Bericht vor, der zügige Verhandlungen über ein bilaterales Handelsabkommen befürwortet. Zudem solle das sogenannte “EU-Handelsbüro” in Taipeh einen offizielleren Namen bekommen. Die erwartbare Reaktion aus Peking: Die EU solle den Willen des chinesischen Volkes zur Verteidigung der territorialen Integrität Chinas nicht unterschätzen, warnte ein Sprecher des Außenministeriums.
Was ist mit Deutschland? In Brüssel und dem Rest der EU wartet man schon sehnlichst darauf, nach der Bundestagswahl endlich zu wissen, wie Berlin mit China umgehen möchte. Sollte der Kanzler ein Sozialdemokrat oder eine Grüne sein, wird mit einem Kurswechsel gerechnet. Mehr dazu in Politicos Newsletter China Direct vom gestrigen Donnerstag.
Soweit war es das für diese Woche. Kommentare, Themenvorschläge oder Kritik? Immer gerne per E-Mail an ausblickost [at] gmail . com oder über Twitter. Dieser Newsletter darf auch gerne an Interessierte weiterempfohlen werden. Bei Paywall-Problemen in verlinkten Artikeln stehe ich gerne mit Hilfe bereit. Bis zum kommenden Freitag und Wohlan!