Ausblick Extrablatt - Sprachpolitik in Okinawa und Norddeutschland
Was ist eine Sprache und was ist ein Dialekt? Und welche politische Relevanz steckt dahinter?
Auch in dieser Woche gibt es eine kurze Pause von der Sommerpause. In Auszügen präsentiere ich hier eine kurze Hausarbeit, die ich 2018 verfasst habe.
Bereits im August gibt es dann wieder reguläre Ausgaben des Newsletters. Vor der Bundestagswahl steht dabei die deutsche China-Politik im Mittelpunkt, ebenso wie die politsche Situation in Japan während Olympia und vor der Unterhauswahl im Herbst.
Einführung: Sprachpolitik und Nationalismus
Nationalstaaten zeichnen sich in ihrem Selbstverständnis oft durch Homogenität aus – kulturell, historisch, sozial und vor allem auch linguistisch wird gerne ein einheitliches Bild projiziert. Doch bei genauerer Betrachtung gibt es einige Ungereimtheiten in diesem Weltbild.
Moderne Nationalstaaten wie Japan oder Deutschland kann man in mehreren Aspekten heterogen betrachten. Wie etwa anhand von Regional- oder Minderheitensprachen die Idee eines geeinten Landes zu hinterfragen ist und welche Bedeutung solche Sprachen für ihre Sprecher und Verbreitungsgebiete haben, soll hier am Beispiel der Präfektur Okinawa im Süden Japans und im Sprachkontinuum des Niederdeutschen in Norddeutschland aufgezeigt werden.
Ryukyu: Der Mythos vom Dialekt und die Transformation des Standards
Die Geschichte der Inselgruppe im äußersten Süden Japans ist von politischen Auseinandersetzungen und der Kontrolle auswärtiger Machtbestrebungen geprägt. Die verschiedenen Sprachen der Region waren die Alltagssprachen des Königreichs Ryukyu, das durch die Meiji-Restauration ab Mitte des 19. Jahrhunderts und die Annexion durch Japan seine Eigenständigkeit verlor.
Das Königreich war bis dahin über Jahrhunderte einer der wichtigsten Verbindungspunkte zwischen dem chinesischen Kaiserreich und dem japanischen Shogunat. Kulturell und sprachlich war es weder komplett der sinozentrischen Weltordnung Pekings noch dem relativ isolierten japanischen Archipel zuzuordnen.
Der Aufbau des japanischen Nationalstaats im späten 19. Jahrhundert bedeutete nicht nur politische Abhängigkeit von der neuen Zentralregierung in Tokyo, sondern vor allem auch die Ankunft des prestigeträchtigeren Dialekts der neuen Hauptstadt Japans, der sich im ganzen Land zur Standardvariante des Japanischen durchsetzen sollte und folglich auch in der Präfektur Okinawa zur Unterrichts- und Behördensprache wurde.
Das Problem dabei: bis zu diesem Zeitpunkt war das Japanische in keiner Weise Verkehrssprache auf der Hauptinsel Okinawa oder in anderen Teilen des Ryukyu-Reiches. Die oberen Schichten verfügten über Kenntnisse des Chinesischen (vor allem in Schriftform) und wohl auch des Japanischen, die breite Bevölkerung jedoch nicht. Stattdessen gab es mehrere Verkehrssprachen auf den einzelnen Inseln, vor allem der Hauptinsel-Dialekt Okinawas dürfte im Alltag wichtig gewesen sein.
Um die Eingliederung des Archipels ins Japanische Kaiserreich zu rationalisieren, wurden die lokalen Sprachen, die sich seit einer Sprachteilung vor mindestens 1.450 Jahren nicht mehr als Teil der japanischen Sprache bezeichnen lassen, wieder als 方言 hougen “Dialekt“ des Japanischen eingeordnet. Da die Sprachen Okinawas und der anderen Inseln für japanische Muttersprachler weitgehend unverständlich sind, ist diese Bezeichnung aber politisch zu bewerten und entspricht nicht der sprachlichen Realität.
Die Verwendung der lokalen Sprachen in Schulen oder Behörden wurde auch durch verschiedene Bestrafungsmethoden wie sogenannte „Dialektplaketten“ durchgesetzt. Diese mussten Kinder tragen, die nicht Japanisch sprechen wollten. Die Nutzung der Muttersprache wurde so erfolgreich stigmatisiert.
Massenmedien haben im 20. Jahrhundert eine ambivalente Rolle bezüglich der Sprachwahl gespielt. Erst nach dem Ende des 2. Weltkriegs wurden die Ryukyu-Sprachen auch schriftlich verwendet und sollten als Unterrichtssprachen etabliert werden. Dies hatte mit der Idee der amerikanischen Besatzungsmacht zu tun, die Bewohner Okinawas auf ihre eigenständige Kultur abseits der anderen japanischen hinzuweisen. Okinawa beheimatet bis heute eine der größten US-Militärstützpunkte weltweit.
Aus politischen und zum ersten Mal japanisch-patriotischen Gründen entschieden sich die Bewohner des Archipels jedoch zur bewussten Assimilation in die japanische Mehrheitsgesellschaft. Erst ab diesem Zeitpunkt wurde das Japanische nicht mehr als fremd oder auswärtig wahrgenommen.
Die Regionalsprachen fanden somit auch weiterhin kaum Verwendung im Alltag. Durch Radiosender wurden jedoch die “Sanshin“, traditionelle Lieder und Musikstücke aus Okinawa, verbreitet und sorgten auch im Rest Japans für ein Interesse an der Kultur des Südens. Die Aufzeichnung der “Sanshin“ dient auf der einen Seite zwar der Bewahrung der Sprachen, auf der anderen Seite ist der Gesang nicht identisch mit gesprochenen Sprache. Auch im Fernsehen ließ sich die Sprache fast ausschließlich in Werbefilmen vorfinden.
In den letzten Jahren haben sich durch das Internet aber neue Formen der Sprachnutzung etabliert. So gibt es inzwischen einen Radiosender der rund um die Uhr in der Sprache Okinawas sendet.
Die Sprachen werden von der UNESCO weiterhin als stark vom Aussterben bedroht eingestuft und könnten 2050 vollständig aus der Region verschwunden sein. Bis heute bezeichnet der japanische Staat die Sprachen als Dialekte, was den Schutz der Sprachen trotz internationaler Aufmerksamkeit fast unmöglich macht.
Die Sprachwissenschaft berichtet jedoch davon, dass die Minderheitensprachen das Japanische in Okinawa beeinflusst haben und trotz ihrer Verdrängung auch die Standardsprache sich verändert hat. Der Grad dieser Veränderung hängt jedoch von der jeweiligen Ryukyu-Sprache ab, da die Nutzung der Sprachen von Insel zu Insel unterschiedlich ist.
Von Hansezeit und Diglossie – Minderheitensprachen und Diglossie in Norddeutschland
Ähnlich wie die Sprachen Okinawas musste auch das Niederdeutsche durch die Bildung des deutschen Nationalstaats einen langfristigen Prestigeverlust erleben.
Zu Zeiten der norddeutschen Hanse war das Mittelniederdeutsche noch die Verkehrssprache nicht nur in Norddeutschland, sondern auch in anderen Einflusssphären der Handelsleute. Sprachhistorisch ist davon auszugehen, dass auch die nordgermanischen Sprachen in Skandinavien stark vom Niederdeutschen beeinflusst wurden. Dies lässt sich bis heute im Vokabular und der Grammatik des Dänischen und Norwegischen erkennen.
Mit dem Ende des informellen Hanse-Bündnisses und der Weiterentwicklung des Mittelhochdeutschen zur Literatursprache verschwand das Niederdeutsche langfristig aus dem öffentlichen Leben der Küstenstädte. Jedoch gab es bereits im 19. Jahrhundert eine bewusste Nutzung des Niederdeutschen als Schriftsprache, etwa durch den Schriftsteller Fritz Reuter. Auch die Verwendung des Niederdeutschen im Roman Die Buddenbrooks von Thomas Mann ist hier zu erwähnen.
Dennoch ist von einem schrittweisen Rückgang der Nutzung auch im ländlichen Raum auszugehen. Die Untersuchung einer Dorfgemeinschaft in Ostfriesland im Jahre 2004 etwa stellt heraus, wie ältere Generationen Niederdeutsch in fast allen Alltagssituationen verwenden, während jüngere nur noch mit Eltern oder Großeltern bewusst die Sprache wählen und sonst Hochdeutsch sprechen.
Entgegen dieser Tendenz lassen sich seit einigen Jahrzehnten erhebliche und auch von staatlicher Seite unterstützte Maßnahmen zum Spracherhalt erkennen. So produzieren die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Radio Bremen und der Norddeutsche Rundfunk seit den 1950er Jahren Hörspiele in niederdeutscher Sprache, die in allen Regionen Norddeutschlands ausgestrahlt werden und die jeweiligen regionalen Varianten des Niederdeutschen abbilden. Dazu kommen tägliche Nachrichtensendungen und wöchentliche Magazinsendungen im Radio und Fernsehen.
Das in Bremen ansässige Institut für niederdeutsche Sprache (INS) hat in einer Umfrage im Jahre 2016 stabile Sprecherzahlen festgestellt. Zudem gaben auch junge Leute an, zumindest passive Kenntnisse der Sprache zu besitzen. Im Herbst 2017 wurde außerdem in Mecklenburg-Vorpommern zum ersten Mal Niederdeutsch als Abiturfach eingeführt. Schüler lernen die Sprache, ähnlich wie Latein oder Französisch, als zweite Fremdsprache an einigen staatlichen Gymnasien. Die grammatische Nähe zu anderen germanischen Sprachen wie dem Niederländischen, den skandinavischen Sprachen sowie dem Englischen lassen die Sprache somit auch im akademischen Kontext relevant werden.
Neben dem Niederdeutschen gibt es mit dem Saterfriesischen in der Gemeinde Saterland in Niedersachsen sowie dem Nordfriesischen in Teilen Schleswig-Holsteins zudem zwei sogenannte friesische Sprachinseln. Alle diese Einzelsprachen sind durch die Unterzeichnung und Umsetzung des Europäischen Charta der Minderheitensprachen geschützt und staatlich anerkannt.
In Schleswig-Holstein wurde durch die Existenz der dänischen Minderheit eine umfassende Mehrsprachenpolitik etabliert. Neben dem Niederdeutschen, Friesischen und Dänischen kann hier auch Romanes (die bisher nicht kodifizierte Sprache der Sinti und Roma) als Amtssprache verwendet werden. Jeder Person steht es somit frei, bei Behördengängen oder vor Gericht ihre Muttersprache anzuwenden und Dokumente in beglaubigter Übersetzung zu erhalten.
Vergleich und Fazit
Neben dem gemeinsamen Status als Regionalsprachen weisen die Ryukyu-Sprachen und das Niederdeutsche erhebliche Unterschiede auf.
In Ryukyu handelt es sich nicht um das Kontinuum der Dialekte einer einzelnen Sprache, sondern um mehrere unabhängige Einzelsprachen auf den Inseln Amami, Okinawa oder Miyako. Nicht überall hat sich das Japanische gleich stark durchgesetzt.
Der Status als angebliche Dialekte des Japanischen macht den Schutz der Ryukyu-Sprachen von staatlicher Seite wenig erstrebenswert. Bei einigen Sprachen beträgt die Sprecherzahl nur noch wenige hundert oder tausend Personen, viele vor allem ältere Sprecherinen. Die Gesangstradition ist eine Möglichkeit des Spracherhalts, jedoch nicht der gesprochenen Alltagssprache. Ob neue Medien wie das Internet zu einer erneuten Verbreitung führen könnten, lässt sich bisher nur schwer erfassen.
Auf der anderen Seite scheint das Niederdeutsche, trotz einigen Streitigkeiten unter Linguisten, als Einzelsprache anerkannt. Die Existenz öffentlicher und privater Institutionen zur Sprachforschung, die gelegentliche Verschriftlichung und Nutzung in Massenmedien sowie die konstanten Sprecherzahlen in Norddeutschland und den angrenzenden Regionen sind Anzeichen, dass die Regionalsprache noch eine Relevanz im Alltag besitzt.
Insgesamt muss daher von äußerst unterschiedlichen Voraussetzungen für den Erhalt der Regionalsprachen in Norddeutschland und dem äußersten Süden Japans ausgegangen werden.
Ein weiterer Hinweis hierfür sind die unterschiedlichen Stellungen von Minderheitensprachen in Asien und in Europa, wo sie durch die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen einen starken rechtlichen Schutz genießen.
Beide Beispiele zeigen jedoch, dass auch moderne Nationalstaaten wie Japan oder Deutschland keineswegs ein einheitliches Gebilde sind, sondern vielmehr ein Zusammenspiel aus verschiedenen Kulturen und Sprachgemeinschaften.